von Ingo Hagel
Ich knüpfe noch einmal an das im vorigen Teil dieses Artikels Erwähnte an, was Rudolf Steiner mit Blick auf seine „Philosophie der Freiheit“ sagte (GA 322, S. 51):
Man weiß, was Geist ist, und man weiß es, indem man den Geist gefunden hat auf dem Wege, den die andere Menschheit auch geht, den sie nur nicht zu Ende geht, der aber für die Bedürfnisse unseres gegenwärtigen Erkenntnis- und sozialen Strebens gegangen werden muss von all denjenigen Menschen, die in der Erkenntnis, die im sozialen Leben irgendwie tätig sein wollen. Das ist das eine, was ich durchblicken ließ durch meine «Philosophie der Freiheit».
In seiner „Philosophie der Freiheit“ macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam,
worum es sich bei diesem „Geist“ handelt. Es handelt sich dabei nicht um das, was der sogenannte moderne Mensch heute so gemeinhin Denken nennt, sondern eben um ein „wesenhaftes Denken„. Erst dieses führt zu dieser „Zurückdrängung der Leibesorganisation“ sowie zu der Wahrnehmung dieser Zurückdrängung:
Dem Wesenhaften, das im Denken wirkt, obliegt ein Doppeltes: Erstens drängt es die menschliche Organisation in deren eigener Tätigkeit zurück, und zweitens setzt es sich selbst an deren Stelle. Denn auch das erste, die Zurückdrängung der Leibesorganisation, ist Folge der Denktätigkeit. Und zwar desjenigen Teiles derselben, der das Erscheinen des Denkens vorbereitet.
Man kann staunen, wie oft und daher eigentlich unmissverständlich Rudolf Steiner
zu Beginn dieses zwölften Kapitels der „Philosophie der Freiheit“ –
das ja überschrieben ist mit dem Titel, der auch die Wesenhaftigkeit dieses ganzen Buches ausdrückt, nämlich: „Die Idee der Freiheit“ –
in den verschiedenen Abwandlungen und Variationen von diesem „Wesenhaften des Denkens“ spricht: Wenn man die „Gesamtwesenheit des Menschen„ mitzählt, bei der ja die zu entwickelnde „Wesenheit des Denkens“ ein wesentlicher und konstituierender Bestandteil ist –
ohne die also die „Gesamtwesenheit des Menschen“ nicht vollständig existiert – und der Mensch kein ganzer Mensch ist –
schreibt Rudolf Steiner 17 Mal in den verschiedensten Variationen von dem „Denken als einer in sich beschlossene Wesenheit„, von einem beobachteten Denken als einem „sich selbst tragenden Wesensweben„, als „einer auf sich ruhenden geistigen Wesenhaftigkeit“ und so weiter. Ich verlinke diese längere Passage daher absichtlich nicht in einem Unterartikel, sondern führe sie hier ihrer Bedeutung wegen in voller Länge an:
Rudolf Steiner im zwölften Kapitel seiner „Philosophie der Freiheit“ zur Wesenhaftigkeit des Denkens
(GA 4, S. 145, Hervorhebungen IH)
Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch die Wahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmten Wahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriff aus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zusammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch das Denken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv bestimmt. Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Begriffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zusammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt.
Anders stellt sich der Vorgang dar, wenn die Erkenntnis, wenn das in ihr auftretende Verhältnis des Menschen zur Welt betrachtet wird. In den vorangehenden Ausführungen ist der Versuch gemacht worden, zu zeigen, daß die Aufhellung dieses Verhältnisses durch eine auf dasselbe gehende unbefangene Beobachtung möglich ist. Ein richtiges Verständnis dieser Beobachtung kommt zu der Einsicht, daß das Denken als eine in sich beschlossene Wesenheit unmittelbar angeschaut werden kann. Wer nötig findet, zur Erklärung des Denkens als solchem etwas anderes herbeizuziehen, wie etwa physische Gehirnvorgänge, oder hinter dem beobachteten bewußten Denken liegende unbewußte geistige Vorgänge, der verkennt, was ihm die unbefangene Beobachtung des Denkens gibt. Wer das Denken beobachtet, lebt während der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen. Ja, man kann sagen, wer die Wesenheit des Geistigen in der Gestalt, in der sie sich dem Menschen zunächst darbietet, erfassen will, kann dies in dem auf sich selbst beruhenden Denken.
Im Betrachten des Denkens selbst fallen in eines zusammen, was sonst immer getrennt auftreten muß: Begriff und Wahrnehmung. Wer dies nicht durchschaut, der wird in an Wahrnehmungen erarbeiteten Begriffen, nur schattenhafte Nachbildungen dieser Wahrnehmungen sehen können, und die Wahrnehmungen werden ihm die wahre Wirklichkeit vergegenwärtigen. Er wird auch eine metaphysische Welt nach dem Muster der wahrgenommenen Welt sich auferbauen; er wird diese Welt Atomenwelt, Willenswelt, unbewußte Geistwelt und so weiter nennen, je nach seiner Vorstellungsart. Und es wird ihm entgehen, daß er sich mit alledem nur eine metaphysische Welt hypothetisch nach dem Muster seiner Wahrnehmungswelt auf erbaut hat. Wer aber durchschaut, was bezüglich des Denkens vorliegt, der wird erkennen, daß in der Wahrnehmung nur ein Teil der Wirklichkeit vorliegt und daß der andere zu ihr gehörige Teil, der sie erst als volle Wirklichkeit erscheinen läßt, in der denkenden Durchsetzung der Wahrnehmung erlebt wird. Er wird in demjenigen, das als Denken im Bewußtsein auftritt, nicht ein schattenhaftes Nachbild einer Wirklichkeit sehen, sondern eine auf sich ruhende geistige Wesenhaftigkeit. Und von dieser kann er sagen, daß sie ihm durch Intuition im Bewußtsein gegenwärtig wird. Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewußte Erleben eines rein geistigen Inhaltes. Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit des Denkens erfaßt werden.
Nur wenn man sich zu der in der unbefangenen Beobachtung gewonnenen Anerkennung dieser Wahrheit über die intuitive Wesenheit des Denkens hindurchgerungen hat, gelingt es, den Weg frei zu bekommen für eine Anschauung der menschlichen leiblich seelischen Organisation. Man erkennt, daß diese Organisation an dem Wesen des Denkens nichts bewirken kann. Dem scheint zunächst der ganz offenbare Tatbestand zu widersprechen. Das menschliche Denken tritt für die gewöhnliche Erfahrung nur an und durch diese Organisation auf. Dieses Auftreten macht sich so stark geltend, daß es in seiner wahren Bedeutung nur von demjenigen durchschaut werden kann, der erkannt hat, wie im Wesenhaften des Denkens nichts von dieser Organisation mitspielt. Einem solchen wird es dann aber auch nicht mehr entgehen können, wie eigentümlich geartet das Verhältnis der menschlichen Organisation zum Denken ist. Diese bewirkt nämlich nichts an dem Wesenhaften des Denkens, sondern sie weicht, wenn die Tätigkeit des Denkens auftritt, zurück; sie hebt ihre eigene Tätigkeit auf, sie macht einen Platz frei; und an dem freigewordenen Platz tritt das Denken auf. Dem Wesenhaften, das im Denken wirkt, obliegt ein Doppeltes: Erstens drängt es die menschliche Organisation in deren eigener Tätigkeit zurück, und zweitens setzt es sich selbst an deren Stelle. Denn auch das erste, die Zurückdrängung der Leibesorganisation, ist Folge der Denktätigkeit. Und zwar desjenigen Teiles derselben, der das Erscheinen des Denkens vorbereitet. Man ersieht aus diesem, in welchem Sinne das Denken in der Leibesorganisation sein Gegenbild findet. Und wenn man dieses ersieht, wird man nicht mehr die Bedeutung dieses Gegenbildes für das Denken selbst verkennen können. Wer über einen erweichten Boden geht, dessen Fußspuren graben sich in dem Boden ein. Man wird nicht versucht sein, zu sagen, die Fußspurenformen seien von Kräften des Bodens, von unten herauf, getrieben worden. Man wird diesen Kräften keinen Anteil an dem Zustandekommen der Spurenformen zuschreiben. Ebensowenig wird, wer die Wesenheit des Denkens unbefangen beobachtet, den Spuren im Leibesorganismus an dieser Wesenheit einen Anteil zuschreiben, die dadurch entstehen, daß das Denken sein Erscheinen durch den Leib vorbereitet.
Aber eine bedeutungsvolle Frage taucht hier auf. Wenn an dem Wesen des Denkens der menschlichen Organisation kein Anteil zukommt, welche Bedeutung hat diese Organisation innerhalb der Gesamtwesenheit des Menschen? Nun, was in dieser Organisation durch das Denken geschieht, hat wohl mit der Wesenheit des Denkens nichts zu tun, wohl aber mit der Entstehung des Ich-Bewußtseins aus diesem Denken heraus. Innerhalb des Eigenwesens des Denkens liegt wohl das wirkliche «Ich», nicht aber das Ich-Bewußtsein. Dies durchschaut derjenige, der eben unbefangen das Denken beobachtet. Das «Ich» ist innerhalb des Denkens zu finden; das «Ich-Bewußtsein» tritt dadurch auf, daß im allgemeinen Bewußtsein sich die Spuren der Denktätigkeit in dem oben gekennzeichneten Sinne eingraben. (Durch die Leibesorganisation entsteht also das Ich-Bewußtsein. Man verwechsele das aber nicht etwa mit der Behauptung, daß das einmal entstandene Ich-Bewußtsein von der Leibesorganisation abhängig bleibe. Einmal entstanden, wird es in das Denken aufgenommen und teilt fortan dessen geistige Wesenheit.)
Das «Ich-Bewußtsein» ist auf die menschliche Organisation gebaut. Aus dieser erfließen die Willenshandlungen. In der Richtung der vorangegangenen Darlegungen wird ein Einblick in den Zusammenhang zwischen Denken, bewußtem Ich und Willenshandlung nur zu gewinnen sein, wenn erst beobachtet wird, wie die Willenshandlung aus der menschlichen Organisation hervorgeht.
Mit Blick auf den Duktus diesen längeren Abschnitts –
der diesbezüglich allerdings in dieser „Philosophie der Freiheit“ nicht alleine steht, man vergleiche dazu auch und besonders die verschiedenen Zusätze zur Neuausgabe 1918 –
würde ich nicht protestieren, wenn Jemand ihm einen durchaus meditativen Charakter zuschreiben wollte – was aber wiederum nur heißt, dass man, wenn man es entdeckt, sehr Vieles –
auch in dieser „Philosophie der Freiheit“ –
meditieren könnte, was für den gewöhnlichen Leser überhaupt nicht so aussieht – was wiederum die oben angeführten zwei Seiten dieser „Philosophie der Freiheit“ demonstriert: Man kann diese so lesen, oder auch ganz anders – und sehen, wie weit man damit kommt. –
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