Zur täglichen Nicht-Beobachtung des Denkens!

 

von Ingo Hagel

 

Wir haben zwar nicht Rücken, aber Bundestagswahlkampf in diesen „schweren Corona-Zeiten“. Von überall grinst Einen höhnisch der gedankenlose Stuss der Wahlplakate an. Zum Beispiel:

Sicherheit ist, wenn ich mir über Sicherheit keine Gedanken machen muss.

Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 2021

Darunter ließ die CDU die knuffig-hemdsärmelige Aufforderung anbringen: 

Deutschland gemeinsam machen.

Wie man etwas macht, ohne sich über dieses Etwas Gedanken zu machen, das beantwortet die CDU allerdings nicht. Es könnte den Menschen zu denken geben, dass sie von ihren Parteien mittlerweile aufgefordert werden, sich keine Gedanken zu machen, das heißt nicht zu denken. Allerdings gibt es hinsichtlich einer solchen Erkenntnis einige Hindernisse. Und die Werbestrategen des Bundestagswahlkampfes 2021 haben wohl mit genialem Griff diese mentale Situation der niedergehenden Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung, die mit Denken nichts mehr zu tun haben will, gerochen und großformatig und flächendeckend umgesetzt. –

Ganz besonders trifft das natürlich für diese, „schweren Corona-Zeiten“ zu, die auch und mal wieder und sicher nicht zum letzten Mal gezeigt haben, wie sehr bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen der Wille zum eigenständigen Denken am Boden liegt. – 

 

Über die Tatsache, dass die Leute in der völligen Gedankenlosigkeit leben, 

hat Rudolf Steiner bereits damals in in seinen „Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften“ sehr dezidierte Aussagen gemacht:   

Man will heute nur sinnlich schauen, nicht denken. Man hat alles Vertrauen in das Denken verloren.

Und wenn man von den Leuten heute erwartet, dass sie sich vielleicht nicht nur über „Sicherheit“ Gedanken machen sollten, sondern auch über die Art und Weise der Gestaltung ihres sozialen Organismus – 

das heißt also zuerst einmal über ein wirklich freies Geistesleben, das, losgelöst vom politischen Staat, mit Blick auf – nur zum Beispiel – medizinische und naturwissenschaftliche Angelegenheiten das vorbringen darf, was es als Wahrheit erkannt hat, und nicht das verkünden muss, was der politische Einheitsstaat, der sein unfreies Geistesleben finanziert, vorgibt – 

zur Sozialen Dreigliederung siehe hier auf Umkreis-Online – 

dann zeigt die Erfahrung, dass man die „überwältigende Mehrheit“ gegen sich hat. Noch bedenklicher wird es dann, wenn man von den Menschen fordert, sich nicht nur über so greifbare Sachen wie „Sicherheit“ Gedanken zu machen, sondern sich auch über so absolut ungreifbare Dinge wie Gedanken Gedanken zu machen – also das Denken überhaupt erst einmal zu beobachten. 

 

Oft wird nicht nur innerhalb der „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners von der Beobachtung des Denkens gesprochen. 

Aber Man weiß zu Beginn dieser Entdeckungsreise –

in der das Schicksal Einen also auf dieses Problem aufmerksam macht, indem es Einen – vielleicht und nur zum Beispiel – auf dieses Buch aufmerksam macht –

eigentlich überhaupt nicht, was der Autor denn damit meint. –

Also Herr Doktor Schnagel: Was soll ich denn da beobachten? Da ist doch nichts! –

Siehe dazu auch die vielfältigen Beiträge zur „Philosophie der Freiheit“ hier auf Umkreis-Online –

 

Das kann einem aber an diesem – eigentlich – so einfachen, aber sehr grundsätzlichen Beispiel aufgehen, 

das Rudolf Steiner im vierten Kapitel seines Buches anführt, und das einen Beleg dafür darstellt, wie man im alleralltäglichsten Leben das Denken zwar ausführt, aber wie grandios man es eben nicht beobachtet. – 

Ich sage jetzt nicht, dass dieses Beispiel – und mein kleiner Artikel dazu – die ultimative und abschließende Lösung dieses Problems einer Beobachtung oder Nicht-Beobachtung des Denkens darstellt, denn dieses hat sehr vielschichtige und weitreichende Facetten. – 

Das Beispiel lautet so (GA 4, S. 58, Einrückung des Zitates von Herbert Spencer zur besseren Lesbarkeit von mir):  

Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstände hervor, daß der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt. 

Ein vielgelesener Philosoph der Gegenwart (Herbert Spencer) schildert den geistigen Prozeß, den wir gegenüber der Beobachtung vollziehen, folgendermaßen: 

«Wenn wir an einem Septembertag durch die Felder wandelnd, wenige Schritte vor uns ein Geräusch hören und an der Seite des Grabens, von dem es herzukommen schien, das Gras in Bewegung sehen, so werden wir wahrscheinlich auf die Stelle losgehen, um zu erfahren, was das Geräusch und die Bewegung hervorbrachte. Bei unserer Annäherung flattert ein Rebhuhn in den Graben, und damit ist unsere Neugierde befriedigt: wir haben, was wir eine Erklärung der Erscheinungen nennen. Diese Erklärung läuft, wohlgemerkt, auf folgendes hinaus: weil wir im Leben unendlich oft erfahren haben, daß eine Störung der ruhigen Lage kleiner Körper die Bewegung anderer zwischen ihnen befindlicher Körper begleitet, und weil wir deshalb die Beziehungen zwischen solchen Störungen und solchen Bewegungen verallgemeinert haben, so halten wir diese besondere Störung für erklärt, sobald wir finden, daß sie ein Beispiel eben dieser Beziehung darbietet.» 

Genauer besehen stellt sich die Sache ganz anders dar, als sie hier beschrieben ist. Wenn ich ein Geräusch höre, so suche ich zunächst den Begriff für diese Beobachtung. Dieser Begriff erst weist mich über das Geräusch hinaus. Wer nicht weiter nachdenkt, der hört eben das Geräusch und gibt sich damit zufrieden. Durch mein Nachdenken aber ist mir klar, daß ich ein Geräusch als Wirkung aufzufassen habe. Also erst wenn ich den Begriff der Wirkung mit der Wahrnehmung des Geräusches verbinde, werde ich veranlaßt, über die Einzelbeobachtung hinauszugehen und nach der Ursache zu suchen. Der Begriff der Wirkung ruft den der Ursache hervor, und ich suche dann nach dem verursachenden Gegenstande, den ich in der Gestalt des Rebhuhns finde. Diese Begriffe, Ursache und Wirkung, kann ich aber niemals durch bloße Beobachtung, und erstrecke sie sich auf noch so viele Fälle, gewinnen. Die Beobachtung fordert das Denken heraus, und erst dieses ist es, das mir den Weg weist, das einzelne Erlebnis an ein anderes anzuschließen. 

 

Diese Sache mit dem Rebhuhn erlebt jeder Mensch täglich viele Male – 

nur eben nicht mit Rebhühnern, sondern in anderer Form. Aber wem ist denn der Zusammenhang, den Rudolf Steiner oben darstellt, jemals aufgegangen? Wer hat denn erlebt, dass er angesichts einer solchen Situation: 

Wenn wir an einem Septembertag durch die Felder wandelnd, wenige Schritte vor uns ein Geräusch hören und an der Seite des Grabens, von dem es herzukommen schien, das Gras in Bewegung sehen, …

erst nach dem Begriff der Wirkung sucht, der Einen dann weiterleitet zu dem, was mit diesem Geräusch verbunden ist, nämlich der Begriff der Wirkung? Es ist doch viel eher so, dass innerhalb der sinnlichen Welt diese Suche nach dem Begriff der Ursache, also dieses Beobachten des Denkens völlig zugedeckt wird durch eben diese Sinneswelt, und dadurch überhaupt nicht ins Bewusstsein fällt. Das Einzige, was Einem ins Bewusstsein fällt, ist:

Da muss doch etwas sein. Mal nachgucken. – Ah! Ein Rebhuhn! Alles klar! 

Oder wir beobachten vom gemütlichen Wohnzimmer aus, dass sich die Zweige und Blätter der Bäume draußen heftig bewegen:

Ah! Es stürmt! Alles klar!

Dass ganz im Gegenteil überhaupt nicht Alles klar ist, weil wir wesentliche Teile unseres gedanklichen Lebens, mit dem wir unser Leben und die Welt gestalten, überhaupt nicht ins Bewusstsein bekommen, uns auch keine Rechenschaft darüber ablegen, was da eigentlich vor sich geht – das fällt den Menschen nicht auf. Warum ist das so? 

 

Wir beobachten das Denken eben nicht, sondern wir beobachten nur die Sinneswelt. 

Diese Sinneswelt fällt ins Bewusstsein, was aber im Hintergrund als Denken abläuft, wird überdeckt und vergessen. Und wenn wir denken, denken wir nicht wirkliche Gedanken, sondern wir haben immer Dinge und Objekte der Sinneswelt in der Vorstellung, die uns die wirklichen Gedanken nicht zu Bewusstsein kommen lassen. Oder wir hören innerlich irgend einen Wortklang und glauben, dass seien Gedanken. Weil das alles eben nicht so ist, deswegen sagte Rudolf Steiner ja ab und zu mal, dass die Menschen keine Gedanken haben – das heißt keine wirklichen Gedanken. – 

Denn wirkliche Gedanken sind nur sinnlichkeitsfreie Gedanken – also zum Beispiel die Gedanken der „Philosophie der Freiheit“ oder der Anthroposophie. –  

 

Das, was Einem im gewöhnlichen Bewusstsein im Kopf herumgeht als Sinnes-Vorstellungen, 

an denen Man „herumdenkt“ und sich festhält –

wenn man so die „Rebhühner“ beobachtend durch die Welt geht, studiert und schließlich seinen Beruf ausübt, vielleicht sogar Politiker und Kanzlerkandidat wird und so weiter und so fort –

das sind eben keine wirklichen Gedanken. 

Kommt man nun dazu, angeregt durch zum Beispiel diese „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners, sich diesen oben angeführten Zusammenhang mit dem Rebhuhn klarzumachen und in ähnlichen Situationen innerlich nachzuforschen und sich Rechenschaft zu geben, was man denn da in den verschiedensten Situationen des Lebens eigentlich denkt, dann ist dann bereits auf einem guten Wege zur Beobachtung des Denkens.   

 

In Anbetracht der heute allgemein herrschenden geistigen Verwirrung 

muss man sich ja besonders für Themen der Art, wie sie hier in diesem Artikel behandelt werden, fast entschuldigen. Weder die Behandlung politischer und sozialer, noch die der drängenden naturwissenschaftlichen Probleme sind von einem öffentlichen Interesse der Menschen begleitet. Aber weil diese Dinge so sind, wie sie sind –

also gedankenlos und nicht das Denken beobachtend –

vollzieht sich in diesem geistigen Vakuum, in dieser Leere – 

obwohl eine adäquate Stellungnahme zu den dort anstehenden Fragen von größtem Interesse eines jeden Menschen sein müsste – 

mit Blick auf bestimmte medizinische Fragen seit zwei Jahren so eine Art „größter anzunehmender Unfall“.  

 

Umso mehr werden erkenntnistheoretische Themen und Probleme der Art, 

wie sie hier in diesem Artikel beschrieben werden –

und wie sie hier auf Umkreis in den verschiedenen Rubriken zur „Philosophie der Freiheit“ seit langer Zeit behandelt werden

von den Menschen wie so eine Art siebenstündiger Vortrag über die Entstehung des Nichts empfunden, den man daher getrost überspringen kann. Aber die realen, handfesten Geschehnisse in dieser Welt geschehen ja nicht aus dem Nichts heraus. Immer sind es Vorstellungshülsen und Phrasen bestimmter Leute, die die Ereignisse treiben und vorwärts bringen – weil die Gedankenlosigkeit der Menschen, die diese Dinge mit sich machen lassen, dies zulässt. Und weil Keiner sich innerlich dazu aufraffen will, das, was unbeobachtet als Denken im Bewusstsein der Menschen sich vollzieht, in den Griff und in die Beobachtung zu bekommen.  

 

Man schreibt also in diesen Angelegenheiten nur für sehr Wenige, 

aber für diese Wenigen ist es doch wichtig, dass der Strom der Behandlung dieser Aspekte nicht völlig versiegt. Man lebt damit eben in geistigen Katakomben – und hofft auf und arbeitet für die Zeiten, in denen das geistige Licht dieser Katakomben an die Oberfläche steigt und dort von den Menschen aufgenommen wird.    

 

 

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