von Ingo Hagel
Das Programmplakat zur Landwirtschaftlichen Tagung 2010 der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft (Sektion für Landwirtschaft) erinnerte bereits in seinen Goldtönen an sakrale Ornamentik. Und das Thema lautete denn auch: „Christliche Impulse in der Landwirtschaft“. Zum dazu erschienenen Tagungsband steht auf der Homepage der Sektion für Landwirtschaft: „Die Zielrichtung der Tagung „Christliche Impulse in der Landwirtschaft“ war, über das Christliche im überreligiösen, weniger im konfessionellen Sinne zu sprechen“ (Hervorhebung IH). Warum man dann als Vortragenden gerade einen Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) ans Goetheanum einlädt, bleibt – auch auf dem Hintergrund des besonderen Verhältnisses der Anthroposophie zum Geistigen (Erkenntnis statt Glauben) – unverständlich und wurde von den Veranstaltern nicht kommentiert.
Der Vortrag dazu von Dr. Clemens Dirscherl lautete „Landwirtschaft aus christlicher Perspektive“. Dirscherl betonte zu Beginn seiner Ausführungen, dass dieses Thema ihm von den Initiatoren der Tagung genannt worden sei. Dessen besondere Nuancierung erschließt sich allerdings erst durch dessen enge Verbindung mit der Evangelischen Kirche (Dirscherl ist Ratsbeauftragter für agrarsoziale Fragen der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und war als solcher im Tagungsprogramm ausgewiesen) sowie aus den vielfältigen Ämtern, die er innerhalb dieser und deren verschiedenen Organisationen innehat: Seit 1991 ist er Geschäftsführer des Evangelischen Bauernwerks und leitender Agrarreferent der württembergischen Landeskirche, seit 1992 Mitglied im Umweltrat der württembergischen Landeskirche, seit 1993 Mitherausgeber der EKD-Zeitschrift „Kirche im ländlichen Raum“, seit 2005 Mitglied in der Arbeitsgruppe „Kirche im ländlichen Raum“ im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Auf obiger Internetseite werden auch die „Aufgaben des Beauftragten für agrarsoziale Fragen“ dargestellt. Dazu gehören unter anderem: „Innerkirchliche Vermittlung agrarsozialer Anliegen … Impulse für die kirchlichen Dienste auf dem Lande durch Publikationen und Vorträge … Beiträge zu kirchlichen Positionen … Vertretung der EKD bei agrar- und regionalpolitischen Anlässen … Mitgestaltung von kirchlichen Aktionen … Übernahme von Verkündigungsdiensten in Verbänden und Organisationen … Dialog mit politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen.“
Informationen zur grundsätzlichen Einstellung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Anthroposophie findet man auf der Homepage der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Diese ist „die zentrale wissenschaftliche Studien-, Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart. Sie hat den Auftrag, diese Zeitströmungen zu beobachten und zu beurteilen.“
Bei der Betrachtung der Publikationen fällt ein Beitrag des Leiters der EZW, Dr. Reinhard Hempelmann auf zum Thema „Anthroposophie in der säkularen Gesellschaft“, der die ablehnende Haltung der Evangelischen Kirche gegenüber der Anthroposophie unmissverständlich zum Ausdruck bringt (Hervorhebungen IH): „Obgleich das Christusgeschehen in Steiners Schau der Welt- und Menschheitsgeschichte eine zentrale Stellung einnimmt, unterscheidet sich seine spekulative Christologie durchaus grundlegend vom Verständnis Jesu Christi in der kirchlichen Tradition. … Menschsein wird in der Anthroposophie primär als durch den Geist konstituiert verstanden. Die These, dass der Geist die Materie regiert, wird jedoch der beanspruchten Ganzheitlichkeit nicht gerecht. In der Auseinandersetzung mit der Anthroposophie haben die christlichen Kirchen immer wieder mit Recht darauf hingewiesen, dass das anthroposophische Welt- und Menschenverständnis sich christlich nicht einholen lässt (das heißt: weder auf einem christlichen Wege zu erlangen noch mit dem christlichen Glauben der verschiedenen Konfessionen vereinbar ist; Anmerkung IH). Christlicher Schöpfungs- und Erlösungsglaube wie auch die christliche Eschatologie (Auferstehungshoffnung) stehen in Spannung zu den grundlegenden Perspektiven der Anthroposophie. … Einem wissenschaftlichen Anspruch genügt die Anthroposophie nicht. Ihre Erkenntnisse und gestalterischen Impulse sind allein auf dem Hintergrund der spekulativen Geistesschau Rudolf Steiners plausibel. Steiners Denken hat innerhalb der Anthroposophie einen normativen Charakter. Es wird einer an sich notwendigen kritischen Diskussion weithin entzogen.“ Aus diesem Text wird klar, dass Hempelmann als Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) einiges von der Anthroposophie gelesen, aber nichts von ihrem undogmatischen und freiheitlichen Geist verstanden hat.
Klickt man dann auf der Homepage der EZW in die Rubrik „Lexikon“, so findet man dort unter „A“ (neben den Themen Aberglaube, Alevitentum, Alternative Medizin und Aura-Soma) zum Stichwort „Anthroposophie“ nichts als ein zweiseitiges Faltblatt (zum Download), von dem daher anzunehmen ist, dass es über das Verhältnis der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Anthroposophie die nötige und erschöpfende Auskunft gibt. Als Autor zeichnet Dr. Jan Badewien, Direktor der Evangelischen Akademie Baden und Weltanschauungsbeauftragter der badischen Landeskirche.
Die Unterpunkte der von Badewien formulierten „Einschätzung“ der Anthroposophie lauten folgendermaßen:
- „An die Stelle des in Jesus Mensch gewordenen Gottes tritt eine unhistorische ewige Christus-Wesenheit.“
Anmerkung: Für Badewien ist „die Historie“, das heißt das, was als zeitliche Erscheinung der Sinneswelt in die Seiten eines Geschichtsbuches hineinpasst, das Maß aller Dinge. Das ist natürlich fatal für eine ewige Christus-Wesenheit, die sich den Menschen jetzt und in die Zukunft hinein nicht über die Vergangenheit (Historie), sondern über ein gegenwärtiges persönlich-geistiges Erlebnis mitteilen möchte. Sagte der Christus doch selbst: „Ich bin mit Euch bis ans Ende der Erdentage.“ – Die Frage, wie in der Tat ein Gott in Jesus Mensch geworden ist, lässt sich heute für einen geistig tiefer veranlagten Menschen als einen „Weltanschauungsbeauftragten der badischen Landeskirche“ wie Herrn Badewien nur durch das „Fünfte Evangelium“ beziehungsweise die „Akasha-Chronik“, das heißt erst einmal durch die Anthroposophie Rudolf Steiners befriedigend beantworten.
- „An die Stelle der Gnade Gottes, die den Schuldigen annimmt und ihm die Schuld abnimmt, tritt die Notwendigkeit, aus eigener Kraft das negative Karma abzuarbeiten.“
Anmerkung: Sicher ist es für viele Menschen eine Zumutung, aus „eigener Kraft das negative Karma abzuarbeiten“. Viel einfacher ist es natürlich, sich vom lieben Gott beziehungsweise dessen Stellvertretung auf Erden, nämlich den Kirchen, rein passiv seine Verfehlungen abnehmen zu lassen, das heißt – zu bleiben wie man ist: geistig schläfrig und faul.
- „An die Stelle der verheißenen Auferstehung tritt Reinkarnation – eine Folge vieler Erdenleben.“
Anmerkung: Und für diese großartige Leistung nur des einen, nicht „vieler Erdenleben“, erwartet Badewien (und die evangelische Kirche) auch noch (zum Dank?) eine „Auferstehung“ (wie eigentlich?), damit er sich weiter darleben kann (wo eigentlich?)?
- „Neben die Bibel tritt als Quelle der Christus-Erkenntnis das „Fünfte Evangelium“ aus der „Akasha-Chronik““.
Anmerkung: siehe erste Anmerkung
In dem Faltblatt ist zu lesen: „Anthroposophie ist eine esoterische Weltanschauung, deren Hauptquelle nicht diskutierbar ist, da sie nur von einem „Eingeweihten“ eingesehen werden kann. Da das Menschenbild ebenso wie das Christus- und das Gottesbild aus dieser Quelle zu sein beanspruchen und nicht biblischen Ursprungs sind, erscheint Anthroposophie mit den Grundlagen aller christlichen Kirchen unvereinbar“ (Hervorhebung IH). Für Hempelmann und Badewien und damit die Evangelische Kirche in Deutschland ist der Fall auch in der interkonfessionellen Meinungsbildung so eindeutig, dass die Exkommunizierung der Anthroposophie problemlos gleich auch stellvertretend für alle anderen „christlichen Kirchen“ und Glaubensbekenntnisse mit ausgesprochen werden kann.
Dass sich an dieser ablehnenden Einstellung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Anthroposophie in den letzten Jahren nichts geändert hat, ergibt sich auch daraus, dass dieses Faltblatt von seinem Autor bereits im Jahre 2005 mit gleichem Inhalt auf der Homepage der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) präsentiert worden ist, und im Jahre 2007 (abgesehen vom etwas erweiterten Literaturteil und der neuen Jahreszahl der Herausgabe) inhaltlich unverändert angeboten wird. – Auf der Homepage der EZW wird auch eine Schrift von Badewien zum angeblichen „Antijudaismus bei Rudolf Steiner“ angeboten.
Da die Frontlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Anthroposophie doch so überdeutlich gezogen ist, kann man sich fragen, warum denn nun ein Ratsbeauftragter dieser Kirche eine Einladung der Landwirtschaftlichen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu einem Vortrag annehmen kann. Denn es ist ja aus den geschilderten inneren Gründen nicht vorstellbar, dass er selber um diese Aufgabe eines Vortrages am Goetheanum gebeten hat – das ablehnende Verhältnis zur Anthroposophie von Dr. Dirscherl als Mitarbeiter und Funktionär der EKD dürfte (im Sinne des oben Angeführten) doch klar sein. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang folgender Passus der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW):
„Die EZW will zur christlichen Orientierung im religiösen und weltanschaulichen Pluralismus beitragen, einen sachgemäßen Dialog mit Anders- und Nichtglaubenden fördern …“ Das bedeutet, dass man seitens der Evangelischen Kirche durchaus in „einen sachgemäßen Dialog mit Anders- und Nichtglaubenden“ eintreten kann, wie zum Beispiel in diesem Falle mit anthroposophisch Interessierten am Goetheanum, aber eben „sachgemäß“, das heißt: im Sinne der Sache der Evangelischen Kirche in Deutschland! Clemens Dirscherl wird daher seinen Vortrag über „Landwirtschaft aus christlicher Perspektive“ weder als Anthroposoph noch aus der Anthroposophie heraus halten, sondern als „EKD-Ratsbeauftragter“ und daher aus der „christlichen Perspektive“ der Evangelischen Kirche heraus – für welche die „Anthroposophie mit den Grundlagen aller christlichen Kirchen unvereinbar“ ist. Auf der Landwirtschaftlichen Tagung 2010 der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft war daher mit dem Beitrag von Dr. Dirscherl bestenfalls ein nicht-anthroposophischer Vortrag zu erwarten.
Anmerkung: Wie aus dem Tagungsband ersichtlich, handelte es sich bei diesem Vortrag jedoch um Ausführungen, die in völligem Gegensatz zur Anthroposophie stehen. Dies wird spätestens bei der Stellung deutlich, die Dirscherl in seinem Goetheanum-Vortrag aus seiner evangelischen Haltung heraus dem Menschen in der Welt zugesteht: „Ist der Mensch die Krone der Schöpfung? Nein, müsste aus christlichem Verständnis die Antwort lauten. Er ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern er steht in Ehrfurcht in und mit der Schöpfung oder, wie Albert Schweitzer es formulierte: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Hier möchte ich ergänzen: und ein Anrecht hat, zu leben. Es geht also um die Existenzberechtigung unterschiedlicher Lebensformen und Kreatürlichkeiten, denen allen jeweils ein eigenes Recht auf Leben zukommt. … Meine erste Frage möchte ich daher beantworten: Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung.“ – Dirscherl reduziert den Menschen (wie Albert Schweitzer) damit auf eine Art exklusiver Pflanze, deren Hauptkennzeichen es nicht nur ist, kreatürlich neben den ganzen anderen „Kreatürlichkeiten“ vor sich hinzuleben, sondern offenbar auch – unklar bleibt, aus welchen Gründen – „ein Anrecht hat, zu leben.“
Ganz anders wird die Stellung des Menschen bereits in Rudolf Steiners Werk „Goethes naturwissenschaftliche Schriften“ (GA 1) dargestellt. In dem Kapitel „Goethes Erkenntnistheorie“ beschreibt Steiner als Erkenntnisart Goethes bereits wesentliche Grundzüge einer Erkenntnistheorie, die er später in „Wahrheit und Wissenschaft“ (GA 3) sowie seiner „Philosophie der Freiheit“ (GA 4) ausführlich darstellt und nennt sie daher schließlich auch „unsere Erkenntnistheorie“ (das heißt Rudolf Steiners Erkenntnistheorie). Im Gegensatz zu Kant darf nicht die Frage „Wie ist Erkenntnis möglich“ an die Spitze der philosophischen Bemühungen gestellt werden, sondern „Was ist das Erkennen“ und lenkt damit den Blick auf die erkennende Tätigkeit selber. Rudolf Steiner räumt mit der gängigen philosophischen Auffassung auf, die menschlichen Wahrnehmungen seien nur Vorstellungen (S. 105), das heißt nur subjektive Produkte des Menschen, die nichts mit der äußeren Welt zu tun hätten. Dennoch wäre das Erkennen „schlechterdings ein nutzloser Prozess, wenn in der Sinneserfahrung uns ein Vollendetes überliefert würde. … Das Erkennen hat nur einen Sinn, wenn wir die den Sinnen gegebene Gestalt nicht als eine vollendete gelten lassen, wenn sie uns eine Halbheit ist, die noch Höheres in sich birgt, was aber nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Da tritt der Geist ein. Er nimmt jenes Höhere wahr.“ Daher heißt Erkennen, „zu der halben Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf dass ihr Bild vollständig werde“. Während dem Menschen die anschauliche Welt als Fertiges gegenübertritt, muss der Begriff, die Idee der Dinge aktiv von ihm hinzugefügt werden: „Ein Gedankengebilde tritt mir nicht gegenüber, ohne dass ich selbst an seinem Zustandekommen mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines Wahrnehmens, dass ich es selbst aus dem dunklen Abgrund der Wahrnehmungslosigkeit heraufhebe. … Ein Prozess der Welt erscheint nur dann als von uns ganz durchdrungen, wenn er unsere eigenen Tätigkeit ist.“ In diesem Moment aber, „wenn wir unser Denken in Fluss bringen“, verändert sich das Verhältnis des Menschen zur Welt grundsätzlich, denn „wir arbeiten uns vom Produkt zur Produktion empor …“ Der Mensch erkennt, dass er durch seine Denktätigkeit etwas in die Welt bringt, dass ohne ihn nicht da wäre. Der Mensch „sieht in sich selbst den Vollender des Weltprozesses; er sieht, dass er berufen ist, das zu vollenden, was die anderen Kräfte der Welt nicht vermögen, dass er der Schöpfung die Krone aufzusetzen hat. Lehrt die Religion, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie, dass Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkt geführt hat. Da hat er den Menschen entstehen lassen, und dieser stellt sich, indem er sich selbst erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu vollenden, was die Urkraft begonnen hat (Hervorhebung IH).“
In seiner „Geheimwissenschaft“ (GA 13) – wie auch in vielen seiner Vorträge – bezeichnet Rudolf Steiner das Ich des Menschen als das, was den Menschen von allen anderen Wesen der Natur unterscheidet und ihn an deren Spitze stellt: Dieses „vierte Glied seiner Wesenheit, welches die übersinnliche Erkenntnis dem Menschen zuschreiben muss, hat er nun nicht mehr gemein mit der ihn umgebenden Welt des Offenbaren. Es ist sein Unterscheidendes gegenüber seinen Mitwesen, dasjenige, wodurch er die Krone der zunächst zu ihm gehörigen Schöpfung ist (Hervorhebung IH).“ Der Vortrag Dirscherls verneint dieses Ich des Menschen und seine Aufgabe und Weiterentwicklung in der Welt.
Dirscherl spricht von „Gottes Werkstatt“, in die der Mensch hineingestellt sei. In dieser Werkstatt gibt es für den Menschen und dessen Ich beziehungsweise für die „Bäuerinnen und Bauern“ jedoch nichts Spannenderes zu tun als „in Ehrfurcht ihren Lebensinhalt und Lebensunterhalt zu gestalten“. Denn für Dirscherl heißt „christliche Verantwortung für die Schöpfung“ nur, „nicht als menschliche Selbstverwirklichung sein Seelenheil zu suchen, sondern erst im Ermöglichen des Lebensraumes der Kreaturen sich als Teil einer göttlichen Schöpfungsgemeinschaft zu erleben.“ Wie wäre es denn, wenn gerade in dieser Selbstverwirklichung des Menschen größtes Seelenheil läge? Dass jedoch diese Selbstverwirklichung als Verwirklichung des innersten Wesenskernes dieser „Krone der Schöpfung“ aufgefasst werden müsste im obigen Sinne einer geistigen, das heißt erkenntnis-produktiven Entwicklung seines Ich? Dies ist das eigentliche Anliegen der Anthroposophie. Aber das gerade verwehrt der Vortrag Dirscherls seinen Zuhörern.
Auch die übrigen Ausführungen Dirscherl stehen in ihrer Kraftlosigkeit in krassem Gegensatz zu dem ethischen Individualismus, den Rudolf Steiner mit der Anthroposophie in die Welt brachte. Sie werden mancherorts von Menschen verkündet, die an irgendein Gutes appellieren (Würde der Pflanze, des Tieres, der Kreatur etc.), ohne sagen zu können, wie denn heute ein Empfinden für diese „Würden“ zustande kommen soll, was man sich konkret darunter vorstellen soll, und wie sich (vielleicht) die Würde des Schweins, die Dirscherl in Anlehnung an „die frühere nordelbische Bischöfin Wattenberg-Potter“ zitiert, von der des Menschen unterscheiden könnte. – „Ich fühle mich frei, wenn ich in der Natur arbeite“, schildert Dirscherl seine Erfahrungen „mit jungen Bauern“. Mag sein, aber was ist mit den Landwirten, deren inneren Bedürfnisse und Fragen mit Blick auf die Natur noch andere sind als nur in ihr arbeiten zu wollen, die diese Natur erkennen wollen. Für diese Menschen ist die Anthroposophie heute da. Aber sie und ihr geistiger Freiheitsimpuls fordern vom Menschen mehr Energie und Anstrengung, als diese saft- und anspruchslosen Ausführungen von Clemens Dirscherl bieten.
Man kann aber auch die andere Frage stellen: Warum wurde denn überhaupt von der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine solche Einladung ausgesprochen? Offenbar hat man am Goetheanum nicht zur Kenntnis genommen, dass die Evangelische Kirche die Anthroposophie und ebenso die Waldorfschule ablehnt:
Anmerkung: Am 2. Feb. 2006 erschien in der Zeitung „Die Welt“ folgende Meldung: „Evangelische Kirche kritisiert Waldorfschulen – Sektenbeauftragter stellt Reformpädagogik in Zweifel: Eine Tagung sorgt für Streit zwischen der Evangelischen Kirche und den Waldorfschulen. Auf der öffentlichen Veranstaltung, zu der der Evangelische Sektenbeauftragte Thomas Gandow für den 10. und 11. Februar in die Evangelische Fachhochschule eingeladen hat, soll auch mit interessierten Eltern darüber diskutiert werden: „Wie christlich ist die Anthroposophie? Wie frei ist die Waldorfschule? Wie schülerzugewandt ist die Pädagogik Rudolf Steiners?“ Gandow selbst ist davon überzeugt, „dass es sich bei den Waldorfschulen nicht um Reform-, sondern um Weltanschauungsschulen handelt“. Eltern, die ihre Kinder dort hinschicken, müssten sich überlegen, ob sie das in Kauf nehmen wollten. „Wir bedauern, dass Herr Gandow wieder die uralten Vorwürfe gegen Waldorfpädagogik aus der Mottenkiste zieht“, erwidert der Sprecher der Waldorfschulen, Detlef Hardorp. Die Waldorfschule begrüße jede kritische Auseinandersetzung, „aber es muss ein Mindestmaß an Fairness geben“. Hardorp hatte deshalb schon im Vorfeld in einem Brief an Bischof Wolfgang Huber darum gebeten, auch einen Vertreter der Waldorfschulen als Referenten einzuladen. Leider vergeblich. Die Tagung diene der innerkirchlichen Meinungsbildung, erwidert Gandow: „Ich bin nicht zur Ausgewogenheit verpflichtet.““
Unter dem Druck sinkender Einnahmen und Mitgliederzahlen (vgl. dazu Nachrichtenblatt der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft – Nachrichten für Mitglieder – Anthroposophie weltweit“ Nr. 8/2010 sowie 9/2010) wird der Drang zur Anbiederung an die Öffentlichkeit seitens des Goetheanums offensichtlich so groß, dass die Warnungen Rudolf Steiners mit Blick auf das Verhältnis der Kirchen zur Anthroposophie für überholt gehalten werden: „Die Kirche hat sich damit ein ungeheures Machtmittel geschaffen, dass sie den Menschen die Einsicht in das vorgeburtliche Leben vorenthalten hat. Deshalb wird die Kirche als solche in der furchtbarsten Weise kämpfen gegen alle jene Lehren, welche sich über das vorgeburtliche Leben ergehen. Die Kirche wird das nicht vertragen. Darüber sollte man sich auch keinen Illusionen hingeben; aber auch darüber nicht, dass das Leben einfach nicht zu verstehen ist, wenn man auf das vorgeburtliche Leben keine Rücksicht nimmt. … Die Kirchenbekenntnisse haben es sich geradezu zu ihrer Mission gemacht, dem Menschen wichtigste Wahrheiten über sich vorzuenthalten. Diese kirchlichen Bekenntnisse haben damit ihr Mittel gefunden, die Menschen einzuhüllen in Dumpfheit, in Illusion. Und es ist heute notwendig, in diesem Punkte sich keinen Täuschungen hinzugeben, nicht aus irgendeiner Nachsicht heraus kompromisseln zu wollen mit allerlei kirchenbekenntlichen Anschauungen. Es lässt sich damit nicht kompromisseln. Und beachtet sollte werden, dass es nichts fruchtet, wenn Sie irgendwo geltend machen: Die Anthroposophie beschäftigt sich ja mit dem Christus, sie ist nicht atheistisch, sie ist auch nicht pantheistisch und so weiter. – Das wird ihnen nie etwas helfen, denn die Kirchenbekenntnisse werden sich nicht darüber ärgern, dass sie sich nicht mit dem Christus beschäftigen, daran liegt ihnen nicht viel, aber sie werden sich gerade darüber ärgern, dass Sie sich mit dem Christus befassen. Denn es liegt ihnen daran, dass sie das Monopol haben, allein über Christus etwas zu sagen. In diesen Dingen darf man keine innere Nachsicht üben, sonst wird man immer versucht sein, die wichtigsten Dinge des Lebens in Dämmerung und Nebel und Illusion zu hüllen. Die Menschheit hat es gegenwärtig notwendig, den geistigen Erkenntnissen entgegenzugehen. Den geistigen Erkenntnissen widerstreben aber am meisten die dogmatischen Kirchenbekenntnisse, namentlich jene dogmatischen Kirchenbekenntnisse, die sich im Abendlande allmählich herausgebildet haben“ (GA 191).
Nicht der Glaube kann daher im Mittelpunkt anthroposophischer Arbeit stehen, sondern das Streben nach geistiger Erkenntnis. Anthroposophie ist eine Wissenschaft (des lebendigen Geistes). Der Mensch ist dort nicht als Bekennender gefordert, sondern als Erkennender. Völlig andere Akzente setzt Dr. Dirscherl als Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Evangelischen Bauernwerks Württemberg e.V. auf der Homepage der Heimvolkshochschule Hohebuch: „Seit über 60 Jahren bietet Hohebuch Menschen im ländlichen Raum eine geistige und geistliche Heimat. Der Glaube soll im Mittelpunkt des Lebens und der Arbeit in „Gottes Werkstatt“ stehen. In Hohebuch und in 39 Bezirksarbeitskreisen vor Ort gestalten wir Erwachsenenbildung.“
Anmerkung: „Die ländliche Heimvolkshochschule Hohebuch ist ein Haus der evangelischen Landeskirche in Württemberg in Trägerschaft des Evangelischen Bauernwerks in Württemberg e.V.“. Dirscherl ist Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Evangelischen Bauernwerks Württemberg e.V. und „inhaltlich Verantwortlicher“ für deren Homepage.
Inhalte aus Glaubensbekenntnissen (oder anderen rein konventionellen, wissenschaftlichen, politischen etc. Berufs- und Lebensverhältnissen) heraus können nicht per se Grundlage für Veranstaltungen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft sein. Sollen sie es trotzdem sein, so darf man am Goetheanum ja doch wohl erwarten, dass sie aus der Anthroposophie heraus bearbeitet und geschildert werden und in einem entsprechenden Zusammenhang mit ihr stehen. Dazu wird jedoch ein Funktionär der Kirche nichts beitragen können, ohne den (Glaubens-) Prinzipien seiner Kirche (und deren oben beschriebenen Haltung zur Anthroposophie) untreu werden zu müssen.
Interessante Vorträge am Goetheanum?
Nun sind viele Menschen sicher der Meinung, Dr. Dirscherl sei ja immerhin Experte für agrarsoziale Fragen, und das sei doch „interessant“, so einen Vortrag zu hören. Das mag für jede normale Vortragsveranstaltung zutreffen, nicht aber für einen Vortrag am Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Diese hat die Aufgabe, Anthroposophie in die Welt, aber eben nicht die Welt, so wie sie geworden ist, ins Goetheanum zu tragen. Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum hat nicht die Aufgabe, konventionellen Vertretern der Wissenschaft, Politik, Kirchen oder sonstigen weltanschaulichen Richtungen eine Plattform zu bieten, sondern dafür zu sorgen, dass (selbstverständlich unter Einbeziehung der Erkenntnisse der gewöhnlichen Wissenschaft) Anthroposophie in die Welt gebracht wird. Es geht niemals um ein Hereintragen der gewöhnlichen Wissenschaft in die Anthroposophie (und deren Institutionen) sondern um eine Durchdringung der Wissenschaft mit Anthroposophie. Darauf hat Rudolf Steiner immer wieder hingewiesen. So zum Beispiel in GA 219: „Die anthroposophische Bewegung, die dann ihre wirklichen Ziele erreicht, wenn sie dasjenige, was ursprünglich in ihr lag, wirklich auch sinn- und kraftgemäß verfolgt und sich in dieser Verfolgung nicht beirren lässt durch irgendwelche spezielle Arbeitsgebiete, die sich in ihrem Lauf eröffnen müssen. Auch das wissenschaftliche Arbeitsgebiet darf zum Beispiel nicht beeinträchtigen den Impuls der allgemeinen anthroposophischen Bewegung. Wir müssen uns klar sein darüber, dass der anthroposophische Impuls es ist, der die anthroposophische Bewegung ausmacht, und dass, wenn in der neuesten Zeit diese und jene wissenschaftlichen Arbeitsgebiete innerhalb der anthroposophischen Bewegung geschaffen worden sind, durchaus die Notwendigkeit besteht, dass dadurch die Kraft und Energie des allgemein-anthroposophischen Impulses nicht abgeschwächt werde, dass namentlich nicht in einzelne Wissenschaftsgebiete hinein, in die Denk- und Vorstellungsform einzelner Wissenschaftsgebiete hinein der anthroposophische Impuls so gezogen werde, dass von dem heutigen Wissenschaftsbetrieb, der gerade belebt werden sollte durch den anthroposophischen Impuls, wiederum so viel abfärbt, dass die Anthroposophie etwa chemisch wird, wie die Chemie heute ist, physikalisch wird, wie die Physik heute ist, biologisch wird, wie die Biologie heute ist. Das darf durchaus nicht sein. Das würde an den Lebensnerv der anthroposophischen Bewegung gehen. Es handelt sich darum, dass die anthroposophische Bewegung ihre spirituelle Reinheit, aber auch ihre spirituelle Energie bewahre. Dazu muss sie das Wesen der anthroposophischen Spiritualität verkörpern, muss in ihm leben und weben, muss alles dasjenige tun, was aus den geistigen Offenbarungen der Gegenwart heraus auch zum Beispiel in das wissenschaftliche Leben eindringen soll.“
Sicher können auch „agrarsoziale Fragen“ für eine biologisch-dynamische Tagung am Goetheanum von Bedeutung sein, aber dann doch immer im Kontext der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners beziehungsweise der von ihm inaugurierten Sozialwissenschaft, das heißt der Sozialen Dreigliederung. Dabei wäre es dann zum Beispiel aufschlussreich zu behandeln, dass eine diesbezüglich anzustrebende Veränderung der gesamtgesellschaftlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse (und damit auch der Misere der biologisch-dynamischen Agrarbewegung) von der Realisierung eines freien Geisteslebens abhängig ist (GA 23). Rudolf Steiner ging sogar so weit zu sagen, dass mit der falschen Vorstellung vom Herzen als einer Pumpe unsere ganze falsche soziale Lage zusammenhängt. Oder es wäre darzustellen, inwiefern der heutige Lohn (Verkauf von Arbeit gegen Geld) ein Anachronismus und speziell in den anthroposophischen Institutionen anzustreben ist, es durch das von Rudolf Steiner beschriebene Teilungsverhältnis zu ersetzen. Oder es wäre die Frage zu behandeln, warum es so wenig biologisch-dynamische Betriebe gibt beziehungsweise so wenig Kunden, die deren Produkte kaufen möchten. Dies hat natürlich mit der geringen Wertschätzung der Menschen für biologisch-dynamische Produkte zu tun. Insofern wäre zu fragen, wie diese Wertschätzung (das heißt das anerkennende Verständnis) zu steigern, das heißt, das Verständnis der Menschen für die biologisch-dynamische Idee zu fördern ist.
Anmerkung:„Dem christlichen Abendlande würde es wie ein Alp auf der Seele lasten, wenn dem Welt-Logos einmal nicht die Achtung eines Heilsarmee-Soldaten, sondern die eines – Logikers entgegengebracht würde. Niemandem oder fast niemandem erscheint es absurd, dass man heute vom Christus nur als Theologe (heute wahrscheinlich schon nicht einmal mehr als Theologe!), nicht aber auch als Physiker, Chemiker, Physiologe oder wer auch immer vom Fach aus sprechen darf. Als absurd gälte es heute hingegen, wenn einem zugemutet würde, den Christus in jedem Thema, Gebiet und Fach wissenschaftlich, rechtlich, politisch, wirtschaftlich oder wie auch immer sonst anzusprechen. Dass dem christlichen Gott im Abendlande vergönnt wurde, sich nur im Spiegel des Glaubens und höchstens noch der künstlerischen Bilder und mystischen Visionen zu offenbaren, während das strenge wissenschaftliche Denken den anderen, unchristlichen Göttern zur Verfügung stand, daraus lässt sich der Bankrott und die zu gewärtigende Vernichtung der christlichen Kultur ersehen. Die Aufgabe, das Denken christlich zu machen, damit die Menschengeschöpfe ihrem christlichen Gott nicht nur sonntags geben, was Gottes ist, steht providentiell vor der deutschen Seele seit der Todesstunde des Thomas von Aquin und als sein letzter Wille. Grund genug, dass sich die christliche Welt gegen diesen Willen seither inkonziliant sträubt.“ (Karen Swassjan: Urphänomene, Kapitel: Europa, quo vadis? – Zur Geschichte eines nahenden Zusammenbruchs).
Christliche Impulse am Goetheanum – Das Verhältnis der Anthroposophie zur Religion
Die Landwirtschaftliche Tagung 2010 am Goetheanum mit dem Thema „Christliche Impulse in der Landwirtschaft“ bringt unter den oben geschilderten Umständen die Anthroposophie in eine bedenkliche Nähe zu einer neuen Religion – und kommt damit vielleicht dem Bedürfnis vieler Menschen entgegen – immerhin war diese Tagung mit 842 Teilnehmern sehr gut besucht, wie das Goetheanum schreibt. Diese wären eventuell froh, wenn sie die Anthroposophie nicht mit einem wachen, scharfen, aber dennoch beweglich-lebendigen Denken – das ein Geistiges selber erleben will -, sondern mehr mit dem fühlenden, passiv hinnehmenden, träumenden Gemüt aufzunehmen hätten, das heißt, wenn Anthroposophie ein Ersatz für eine Religion sein könnte. „Nun, der Irrtum liegt darin, dass Anthroposophie durchaus nicht ein Ersatz für eine Religion sein kann“ (Rudolf Steiner, GA 255b).
In GA 335 verweist Rudolf Steiner auf den „schönen Ausspruch, der von Goethe herüberragt, und der ewig wahr bleiben wird“: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion. Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion“ und führt weiter zum Verhältnis eines zeitgemäßen Religiösen zur Wissenschaft mit Blick auf die Geisteswissenschaft (Anthroposophie) aus: „In unserer Zeit aber darf vielleicht von dem Geisteswissenschafter … als eine besondere, tiefste Herzensangelegenheit aus der Geisteswissenschaft heraus gesagt werden: Jawohl, wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion. – Aber heute kann Religion zu einem Aufstieg nur führen, wenn sie aus einer lebendigen Wissenschaft selbst lebendig schöpft und nicht aus einer Wissenschaft des Toten heraus; sie kann nur zum Aufstieg führen, wenn sie aus einem künstlerischen Wollen entspringt, das verbunden ist mit einer solchen Geist-Erkenntnis, dass man sagen kann: Wer heute besitzt eine Wissenschaft, die in Geistesschau wurzelt, wer heute versucht, wenn auch in einem noch so schwachen Anfang, eine Kunst, die mit dieser Geistesschau in ihrem intensivsten Wollen ganz verbunden ist, dem sollte man nicht vorwerfen, dass er dem religiösen Element auf dem Wege des Lebens in der Gegenwart widerstrebt. Denn wer nach dem Geist sucht, wer den Geist künstlerisch zu verkörpern sucht, der hat gewiss auch den Willen, dasjenige in das soziale Leben hinüberzuführen, das, mit Menschenwert und Menschenwürde verbunden, in der sozialen Gemeinschaft wahrhaftig die Aufschau zu der göttlichen Weltenlenkung, zu den göttlichen Urkräften des Lebens übt – wahrhaftige Aufschau, die nicht bloß spekuliert auf den Egoismus der Menschen, sondern auf den Zusammenhang der Menschen mit den großen, ewigen Gesetzen des Daseins. Zum Aufstieg führen kann nur eine Religion, die nicht auf den Egoismus spekulieren will (vgl. Anmerkung, IH), sondern auf die tiefste Harmonie des einzelnen Menschen mit der ganzen Welt hinweist. Und in demselben Maße, in dem solche Religion aus solcher Wissenschaft, aus solcher Kunst als Impuls die menschliche Seele durchdringt, in demselben Maße werden wir sozial weiterkommen. In demselben Maße werden wir trotz Not und Elend – vielleicht aber, wenn die widerstrebenden Kräfte allzu kräftig sind, noch durch viel Not und viel Elend -, entgegengehen nicht einem Untergang der Kultur des Abendlandes, sondern einem Aufstieg des wahrhaftigen menschlichen Lebens – einem Leben, in dem auf den Wegen der Seele und den Wegen des Lebens religiös, wissenschaftlich, künstlerisch gearbeitet werden kann und gearbeitet werden wird, in dem aus dem Geiste, aus der geisterfüllten Kunst, aus der geistgetragenen Religion heraus für die menschliche Gegenwart und in die menschliche Zukunft hinein gearbeitet wird.“
Anmerkung:Die Menschen können in zwei Gruppen mit konträren Eigenschaften eingeteilt werden, die jede zur völligen Einseitigkeit gesteigert werden können. Repräsentant der einen Gruppe ist der moderne materialistische (Natur-) Wissenschaftler. Im extremen (einseitigen) Fall verfährt er nach dem Motto: „Leben = Physik + Chemie“; oder: „es ist das Gehirn, das denkt“, oder: „Religion ist nichts Besonderes für sich sondern ein darwinistisch zu erklärender Selektionsvorteil und damit nur ein naturwissenschaftliches Phänomen.“ Beispielhaft dafür steht ein Essay, das kürzlich in der Zeitschrift „Biologie in unserer Zeit“ veröffentlicht wurde: Der Wissenschaftler hatte „Befunde und Argumente zusammengetragen, die für die Auffassung sprechen, dass es sich bei der menschlichen Religiosität um ein Bündel evolutionärer Angepasstheiten handeln könnte. Wenngleich Religionen aus wissenschaftlicher Sicht keinen Wahrheitsanspruch erheben können, scheint religiöse Lebenspraxis mit adaptiven Vorteilen verbunden zu sein“. Wären die Wissenschaftler (und alle die, die streng naturwissenschaftlich denken wollen) konsequent, müssten sie Atheisten werden. Dass nicht alle Atheisten sind, belegt, dass viele von ihnen weltanschaulich zweigleisig fahren – das eine Gleis für den Beruf, das andere fürs Private.
Auf der anderen Seite stehen die aus ihrer Veranlagung heraus religiös gestimmten Menschen, deren Religiosität einseitig wird, wenn sie aller Wissenschaft und dem durch sie hervorgebrachten Fortschritt misstrauisch bis ablehnend gegenübersteht. – Es ist aufschlussreich, aus der Anthroposophie zu erfahren, was es mit diesen Gegensätzen – in deren Spannung jeder Mensch drinnen steht, und die jeder an sich in verschieden starken Nuancen entdecken kann – auf sich hat, und wie diese jeweils einseitigen Haltungen zu überwinden sind.
Hinter allen Erscheinungen der Welt stehen geistige Wesenheiten, die als die eigentliche Ursache derselben anzusehen sind. Und hinter allen polar geordneten Erscheinungen und Eigenschaften in der Welt (schnell-langsam, heiß-kalt, hell-dunkel, Spiritualist-Materialist usw.) stehen impulsierend zwei (polare) geistige Wesenheiten, die Rudolf Steiner als Ahriman und Luzifer bezeichnet. So wie die Wissenschaftler (beeinflusst durch Ahriman) sämtliche Erscheinungen der Welt nur als Resultat der Materie und ihrer Wirkungen anerkennen können, so lehnen die (luziferisch beeinflussten) Vertreter einer einseitigen Religiosität (Rudolf Steiner nennt als Beispiel im Christentum, in denen diese Haltung am stärksten ausgeprägt ist, unter anderem die katholische Kirche – in der heutigen Zeit wären wohl auch die extremen und frühen Vertreter einer technikfeindlichen Ökobewegung zu dieser Richtung zu zählen – aber auch diese hatte ihre Aufgabe in der Welt) die Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft ab.
„Die katholische Kirche hat doch erst im 19. Jahrhundert die Kopernikanische Weltanschauung offiziell anerkannt. Was äußere Wissenschaft ist, wird von der einseitigen Religion selbstverständlich bekämpft, das kann nicht anders sein. In diesem Bekämpfen von seiten der Religion gegenüber der äußeren Wissenschaft liegen zwei Impulse. Der eine Impuls ist der, dass die einseitige Religion wohl fühlt: In der Wissenschaft, die bloß mit Rücksicht auf die äußere Welt getrieben wird (das heißt mit Blick auf Technik und Nutzanwendung, Anmerkung IH), bekundet sich Ahriman. Das ist das Berechtigte im Kampfe der Kirche. Nicht hinwegzuhalten ist Ahriman von der äußeren Wissenschaft, wenn sie nicht aufblickt zur spirituellen Weltanschauung; das ist das Berechtigte. Auf der anderen Seite aber steht ein unberechtigter Impuls in dem Wenden der einseitigen Religion gegen die Wissenschaft. Diese einseitige religiöse Weltanschauung ist nämlich selbst beseelt, durchseelt möchte man sagen, besonders vom luziferischen Element. Denn nach religiöser Vertiefung streben und das wissenschaftliche Eindringen in geistige Welten hassen, das ist dasjenige, was Luzifer von dem Menschen will. Luzifer könnte nicht besser sein Ziel erreichen, als wenn alle Menschen bloß religiös wären. Dieses Religiöse hat einen ungeheuer starken egoistischen Einschlag. Denken Sie nur, wie die Menschen, die nicht nach dem geistigen Wissen streben, ihre Religion auffassen. Aus Egoismus heraus wollen sie selig werden, aus Egoismus ein Leben, wie sie es sich ausmalen, nach dem Tode führen! In der einseitigen Religion ist der Egoismus auf die höchste Spitze getrieben: ein Egoismus der Seele, nicht bloß des Leibes. Die besten religiösen Aspirationen, die uns umgeben, stecken im Egoismus. Und wirklich, die frömmsten Leute, die uns durch ihre Frömmigkeit rühren – Luzifer ist es, der ihre religiösen Gefühle beherrscht. Luzifer ist es viel lieber, wenn er fromme Seelen bekommt, die einen Sinn haben für das Geistige, das Gute, das sie aus Egoismus anstreben. Denn er will nicht lauter Verbrecherseelen, er will gerade die frommen Seelen einführen in sein Element“ (GA 159).
Es ist aus der anthroposophischen Sache heraus völlig unnötig, dass die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft auf ihrer Suche nach einer Verbindung zwischen der Landwirtschaft (oder irgendeinem anderen Lebens-, Arbeits- und Forschungsgebiet) und dem Christlichen einen Vertreter der Kirche bemüht, denn „Anthroposophie ist in allen Einzelheiten ein Streben nach der Durchchristung der Welt“, wie Rudolf Steiner darlegte (GA 211).
In GA 148 spricht Rudolf Steiner von dem „großen kosmischen Christus-Gedanken, der heute durch die Anthroposophie aufgehen soll.“ Zu einer anderen Gelegenheit wurde er noch deutlicher: „Der Christus hat einmal gesagt: „Ich bin bei euch bis ans Ende der Erdentage.“ Und er ist nicht bloß als ein Toter, er ist als ein Lebender unter uns und er offenbart sich immer. Und nur diejenigen, die so kurzsichtig sind, dass sie sich vor diesen Offenbarungen fürchten, sagen, man solle bei dem bleiben, was immer gegolten hat. Diejenigen aber, die nicht feige sind, wissen, dass der Christus sich immer offenbart. Deshalb dürfen wir dasjenige, was er als Anthroposophie offenbart, als eine wirkliche Christus-Offenbarung aufnehmen. – Oft, meine lieben Freunde, werde ich gefragt von unseren Mitgliedern: Wie setze ich mich in Verbindung mit dem Christus? – Es ist eine naive Frage! Denn alles, was wir anstreben können, jede Zeile, die wir lesen aus unserer anthroposophischen Wissenschaft, ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu dem Christus. Wir tun gewissermaßen gar nichts anderes. Und derjenige, der nebenbei noch ein besonderes Sich-in-Beziehung-Setzen sucht, der drückt nur naiv aus, dass er eigentlich vermeiden möchte den etwas unbequemen Weg, etwas zu studieren oder etwas zu lesen“ (GA 169, Hervorhebung IH).
Das Christliche löst sich immer mehr von allen äußeren Hüllen, Zeichen und Symbolen. Es flutet durch die Welt, will jedoch immer mehr nicht mehr sinnlich sondern übersinnlich, das heißt geistig erfasst und erfahren werden. Wer heute nicht mehr glauben kann, sondern wissen will, dem steht der Weg über eine vertiefte Erfahrung des Geistigen selber offen. Diese beginnt jedoch mit dem Denken, nicht mit einer Intensivierung der Sinneswahrnehmung. Man könnte sich ja einmal fragen, warum Rudolf Steiner seine „Philosophie der Freiheit“ „die christlichste der Philosophien“ nannte (GA 212). Dabei handelt es sich um ein anspruchsvolles erkenntnistheoretisches Werk – das besser erkenntnispraktisches Werk genannt werden sollte. Es bietet keinerlei religiösen Inhalt, kann aber über ein neues, reines (sinnlichkeitsfreies) und lebendiges Denken zu einer neuen religiösen Vertiefung und Erfahrung führen.
Der Weg über die Beobachtung durch die Sinne ist ja der Weg, den die Naturwissenschaft seit Jahrhunderten geht, ohne die Rätsel dieser Welt lösen zu können. Diese Seite der Weltbetrachtung wird von der Anthroposophie nicht abgelehnt. Sie gehört zum heutigen Menschen dazu. Dieser ist auf diesem jahrhundertelangen Weg einer fortwährend seinen Aberglauben und sonstige (falsche) Vorstellungen korrigierenden Forschertätigkeit zu einem klaren Denken gekommen, das mit aller tradierten Mystik brechen musste, nun allerdings in (in einer oft fragwürdigen) Technik und Nutzanwendung nur noch die Sinnesseite der Welt bearbeiten will und als Grundlage für deren Erscheinungen an die Formel glaubt: Leben = Physik + Chemie. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart erfasst nur das Tote, das Gewordene der Welt, nicht aber das Leben, das Werden. Und so sagte Rudolf Steiner mit Blick auf die beiden Teile seiner „Philosophie der Freiheit“: „Daher musste man also auf die eine Seite dasjenige legen, was im vollsten Sinne darbietet, was äußere Naturerkenntnis ist, in die man nur hineinkommt mit dem Geistigen, indem man sich zu dem reinen, freien Denken erhebt. Das kann man noch retten innerhalb der rein technischen Erkenntnis. Auf die andere Waagschale muss aber gelegt werden das, was die wirkliche Christus-Erkenntnis, die wirkliche Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha ist,“ (GA 212) das heißt das, was dem Menschen heute zugänglich ist durch und als Anthroposophie.
Diese erfordert allerdings innere Aktivität, indem nicht die „leichten“ Erkenntnisse der auf die Sinne gestützten Verstandestätigkeit entwickelt werden, sondern indem der Mensch sich wirklich geistige (sinnlichkeitsfreie) Erkenntnisse aneignet: „Und Aneignung geistiger Erkenntnis ist nicht bloß Aneignung einer abstrakten Erkenntnis, ist Durchdringung des Geistig-Seelischen des Menschen mit den Kräften, die den Tod besiegen. Das ist im Grunde genommen ja die christliche Lehre. Daher soll der Mensch nicht bloß, wie es ein neueres Bekenntnis durchaus will, den Glauben an Christus haben, sondern er soll das Pauluswort beherzigen: „Nicht ich, sondern der Christus in mir.“ Die Kraft des Christus in mir, entwickelt muss sie werden wollen und ausgebildet muss sie werden! Der Glaube als solcher kann durchaus den Menschen nicht retten, sondern einzig und allein das innere Zusammenarbeiten mit dem Christus, das innere Sich-Erarbeiten der Christus-kraft, die ja immer da ist, wenn man sie sich erarbeiten will, die aber erarbeitet werden muss. Initiative, innere Aktivität, das ist es, womit die Menschheit sich wird erfüllen müssen“ (GA 205, Hervorhebung IH).
Die Kirchenbekenntnisse dagegen fordern „auch nichts anderes, als dass wir passiv dem uns hingeben, was uns da geboten wird. Und die Kirche pensioniert dann unsere Seele, wenn wir tot sind; die versichert sie uns, ohne dass wir etwas dazutun, als höchstens im Glauben leben … Das ist etwas, womit gebrochen werden muss, wenn die Kultur nicht an ihrem Niedergang ankommen soll. Innere Aktivität, inneres aktives Mittun mit dem, was der Mensch aus sich macht, sogar was er aus sich macht als einem unsterblichen Wesen, das ist notwendig. Der Mensch muss arbeiten an seiner Unsterblichkeit“ (GA 205, Hervorhebung IH) – und das geschieht eben mit der Erarbeitung der Anthroposophie.
Was hieße es also, an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine Tagung über „christliche Impulse in der Landwirtschaft“ oder einen Vortrag über „Landwirtschaft aus christlicher Perspektive“ zu veranstalten? Doch wohl, dies aus anthroposophischer Sicht zu tun, das heißt, indem man die Sache der Landwirtschaft aus der Anthroposophie heraus darstellt. Darstellungen aus irgendwelchen konfessionellen (oder anderen konventionell wissenschaftlichen oder politischen Richtungen) heraus sind von dieser Stelle aus völlig unangebracht. Will man unbedingt für den biologisch-dynamischen Landwirt (oder den, der es werden will), eine Tagung über das Christliche in der Landwirtschaft veranstalten, wird dieses Anliegen in dem Maße erfüllt, als die Landwirtschaft und die mit ihr assoziierten Gebiete aus dem Geiste der Anthroposophie heraus beleuchtet, durchlichtet werden. Dies kann daher innerhalb anthroposophischer Zusammenhänge auch kein einmaliges Ereignis sein, nach deren Abhandlung man sich dann im nächsten Jahr einem „neuen Jahres-Thema“ zuwendet.