Zum Erleben gegenüber den Grenzorten des Erkennens

von Ingo Hagel

 

Zur Einleitung zu diesem Artikel siehe hier den Artikel zum Eisbären, der sich flach auf das Eis legt

Eine größere Wachheit und Aufmerksamkeit gegenüber den vielen Grenzorten des Erkennens, die Einem heute durch das Internet gedankenlos dargeboten werden, würde gegenüber der heutigen naturwissenschaftlichen Arroganz, Ignoranz und dem sonstigen Hochmut der übrigen gutbürgerlichen Fraktionen einen gesunden Impuls der intellektuellen Bescheidenheit in die Menschen hineinbringen – sowie vielleicht die Neigung, sich mehr mit dem zu beschäftigen, was der übersinnliche Forscher zu dieser Sache zu sagen hat. Und zu sagen hat dieser dazu – nur zum Beispiel – dieses, was Rudolf Steiner glaubte, zu diesem Thema einer in der Natur waltenden Weisheit den Arbeitern und Handwerkern des ersten Goetheanum mitteilen zu können, dass nämlich die Tiere nicht nicht denken, sondern ganz anders denken als der Mensch mit seinem Gehirn – und mit anderen Organen (GA 347 S. 93):  

Ja, aber, meine Herren, wenn das wirklich wahr ist, was ich Ihnen sage, dann muß sich ja das auf einem anderen Gebiete erst recht zeigen. Es muß sich zeigen, daß diejenigen Erdenwesen, die mehr im Inneren leben, mehr in der inneren Denktätigkeit leben, daß also die Tiere nicht weniger denken als der Mensch, daß die Tiere mehr denken – also im Kopfe weniger als der Mensch, sie haben ein unvollkommenes Gehirn. Aber dann müssen sie mehr das Leberleben und das Nierenleben beachten, müssen mehr mit der Leber nach innen gucken und mit den Nieren mehr nach innen denken. Das ist auch beim Tier der Fall. Dafür gibt es einen äußeren Beweis. Unsere menschlichen Augen sind so eingerichtet, daß eigentlich das blaue Blut, das da hineinkommt, schon sehr wenig ist, so wenig, daß die heutige Wissenschaft gar nicht davon redet. Früher hat sie davon geredet. Aber bei den Tieren, die mehr in ihrem Inneren leben, schauen die Augen nicht bloß an, sondern die Augen denken mit. 

S. 95

Ich kann Ihnen etwas sagen, was Sie wirklich nicht überraschen wird. Sie werden nicht voraussetzen, daß es dem Geier hoch oben in den Lüften mit seinem verdammt kleinen Gehirn gelingen würde, den ganz schlauen Entschluss zu fassen, gerade da herunterzufallen, wo das Lamm sitzt! Wenn es beim Geier auf das Gehirn ankäme, könnte er verhungern. Aber beim Geier sitzt im Auge drinnen ein Denken, das nur die Fortsetzung ist von seinem Nierendenken, und dadurch faßt er seinen Entschluss und schießt herunter und fängt das Lamm ab. So macht es der Geier nicht, daß er sich sagt: Da unten ist ein Lamm, jetzt muß ich mich in Positur setzen; jetzt werde ich gerade richtig in der Linie da herunterfallen, da werde ich auf das Lamm stoßen. – Diese Überlegung würde ein Gehirn machen. Wenn ein Mensch da oben wäre, so würde er diese Überlegung anstellen; nur wäre er nicht imstande, das auszuführen. Aber beim Geier denkt schon das Auge. Da ist die Seele schon im Auge drinnen. Das kommt ihm gar nicht so zum Bewusstsein, aber er denkt doch.

 

Mit Blick nicht auf einfache Arbeiter und Handwerker, sondern mit Blick auf die Wissenschaftler 

dachte sich Rudolf Steiner ein mögliches Verhalten gegenüber diesen Grenzorten des Erkennens, an denen man glaubt, erkennend nicht weiterkommen zu können, das so:   

Man nehme den folgenden Fall. Ein Mensch sinnt über eine derjenigen Fragen, welche eine gewisse Weltanschauung als über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit hinausgehend betrachtet. Man kann in einem solchen Falle sich denkend mit sich selbst auseinandersetzen, und glauben, daß man durch diese Auseinandersetzung genötigt wird, zu sagen, bis hierher vermag der Mensch mit seinem Erkennen zu gehen; ein weiteres Vordringen in die Wirklichkeit ist nicht möglich. Man kann aber auch es gewissermaßen probeweise mit seinem Denken bis zum scharfen Erfahren desjenigen treiben, was die Seele erlebt, wenn sie sich so an diese Grenze stellt. Man muß dabei in innerer Ruhe die Kraft aufbringen, die Seelentätigkeit im Erfassen dieses Erlebnisses zum Stillstand zu bringen. Man wird dann erfahren, woran es liegt, daß man mit dem Denken nicht weiter kommt. Und diese Erfahrung offenbart demjenigen, dem sie zuteil wird, daß es nicht an dem Denken liegt, sondern an dem Umstände, daß das Denken durch die Leibeswerkzeuge ausgeübt wird, wenn er nun sich an eine Grenze gestellt findet. Die Abhängigkeit des gewöhnlichen Denkens von den Leibeswerkzeugen wird nun unmittelbare Seelenerfahrung. …

Und so weiter.  

 

Und in diesem Vortrag hier schildert Rudolf Steiner das so:      

Hören wir doch heute noch von weitaus den meisten Erkenntnismenschen der Gegenwart, wenn sie auf einen solchen Widerspruch stoßen, –

also zum Beispiel den oben geschilderten Eisbären; Anmerkung IH –

das Folgende – es gibt ja davon Hunderte und Hunderte, Du Bois-Reymond, der geistvolle Physiologe, hat seinerzeit von den sieben Welträtseln gesprochen, aber man kann diese sieben Welträtsel in Hunderte vermehren – der heutige, zeitgenössische Erkenntnismensch sagt: Bis hierher geht eben das menschliche Erkennen, weiter kann es nicht kommen. – Einfach aus dem Grunde sagt er dieses, weil er sich an den Grenzorten des menschlichen Erkennens nicht entschließen kann, überzugehen vom bloßen Denken, vom bloßen Vorstellen zum Erleben. Man muß beginnen an einer solchen Stelle, wo sich ein Widerspruch, den man nicht ausgeklügelt hat, sondern der durch die Welträtsel sich einem geoffenbart hat, in den Weg stellt, muß versuchen, mit einem solchen Widerspruch immer wieder und wiederum zu leben, immer wieder und wieder, so wie man mit den Gewohnheiten des Alltags ringt, mit ihm ringen, gewissermaßen seine Seele ganz in ihn untertauchen. Man muß – es gehört ein gewisser innerer Denkermut dazu – in den Widerspruch untertauchen, keine Furcht davor haben, daß dieser Widerspruch etwa das Vorstellen der Seele zersplittern könne, daß die Seele nicht durchkönne oder ähnliches. In den Einzelheiten habe ich dieses Ringen an solchen Grenzorten gerade geschildert in meinem Buch „Von Seelenrätseln“. 

  

Dort in seinem Buch „Von Seelenrätseln“ weist Rudolf Steiner noch auf einen weiteren „Grenzort des Erkennens“ hin,

der Einem im gewöhnlichen Bewusstsein so leicht durch die (un)geistigen Finger flutscht: nämlich die Frage, warum aus einem Lämmer fressenden Wolf nicht allmählich ein Lamm wird. Rudolf Steiner dazu (GA 21 S. 138):

Die Wahrheit ist, daß Anthropologie mit dieser Frage an einem der Grenzorte ihres Erkennens ist. 

Also auch hier gibt es einen „Grenzort des Erkennens„, den Rudolf Steiner aufdeckt. Wer also bisher –

aus allem ernährungsphysiologischen und sonstigen wissenschaftlichen Halbwissen –

mit dem Brustton der Überzeugung gesagt hat: 

Es sei doch ganz klar, warum aus dem lämmerfressenden Wolf kein Lamm wird … 

obwohl der sich doch ganz aus dieser Substanz des Lammes bildet und regeneriert, der sollte noch einmal nachdenken und bemerken, dass er im Grunde genommen sein ganzes Leben lang an einem weiteren „Grenzort des Erkennens“ gestanden und ahnungslos über diesen hinweggegangen ist.    

 

Und was schlägt Rudolf Steiner den Menschen, die sich mit diesem Problem dieser Grenzorte des Erkennens 

wirklich erlebend beschäftigen wollen, in seinem Buch „Von Seelenrätseln“ vor? Hier ein Ausschnitt – mehr dazu hier:      

Wer sich dem Nachdenken über die durch die Sinnes-Erscheinungen bewirkten Erlebnisse hingibt, der stößt überall auf Fragen, zu deren Beantwortung ihm dieses Nachdenken zunächst unzulänglich erscheint. Im Verfolg solchen Nachdenkens kommen die Vertreter der Anthropologie zur Festlegung von Erkenntnisgrenzen. Es braucht nur daran erinnert zu werden, wie Du Bois-Reymond in seiner Rede über die Grenzen des Naturerkennens davon spricht, daß man nicht wissen könne, welches das Wesen der Materie ist, und welches dasjenige der einfachsten Bewusstseinserscheinung. Man kann nun an solchen Punkten des Nachdenkens stehen bleiben und sich der Meinung hingeben: da liegen eben für den Menschen unübersteigliche Erkenntnisschranken. Und man kann demgemäß sich dabei beruhigen, daß der Mensch nur innerhalb des von diesen Schranken umschlossenen Gebietes ein Wissen erlangen könne und darüber hinaus nur ein Ahnen, Fühlen, Hoffen, Wünschen möglich sei, mit denen eine «Wissenschaft » nichts zu tun haben könne. – Oder man kann in diesem Punkte anheben, Hypothesen auszubilden über ein Gebiet, das über das Sinnlich-Wahrnehmbare hinausliegt. 

Man bedient sich in einem solchen Falle des Verstandes, von dem man glaubt, daß er seine Urteile über ein Gebiet ausdehnen dürfe, von dem die Sinne nichts wahrnehmen. Man wird sich mit einem solchen Verfahren der Gefahr aussetzen, daß der in dieser Beziehung Ungläubige erwidert, der Verstand habe keine Berechtigung, über eine Wirklichkeit zu urteilen, für die ihm die Grundlage der Sinneswahrnehmungen entzogen ist. Denn diese allein gäben seinen Urteilen einen Inhalt. Ohne einen solchen Inhalt blieben seine Begriffe leer. 

Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft verhält sich nicht in der einen und nicht in der andern dieser beiden Arten zu den «Erkenntnisgrenzen». In der zweiten nicht, weil sie mit denjenigen der gleichen Ansicht sein muß, welche empfinden, daß man gewissermaßen allen Boden für das Nachdenken verliert, wenn man die Vorstellungen so beläßt, wie man sie an den Sinneswahrnehmungen gewonnen hat, und sie doch über dieses Gebiet hinaus anwenden will. – In der ersten Art nicht, weil sie gewahr wird, daß sich an den sogenannten Grenzen des Erkennens etwas seelisch erleben läßt, das mit dem aus der Sinneswahrnehmung gewonnenen Vorstellungs-Inhalt nichts zu tun hat. Wenn die Seele nur diesen Inhalt sich vergegenwärtigt, dann muß sie bei wahrer Selbstbesinnung sich sagen: dieser Inhalt kann unmittelbar nicht etwas anderes dem Erkennen offenbaren als eine Nachbildung des sinnlich Erlebten. Anders wird die Sache, wenn die Seele dazu übergeht, sich zu fragen: was läßt sich in ihr selbst erfahren, wenn sie mit solchen Vorstellungen sich erfüllt, zu denen sie an den gewöhnlichen Erkenntnisgrenzen geführt wird? Sie kann sich dann bei entsprechender Selbstbesinnung sagen: erkennen im gewöhnlichen Sinne kann ich mit solchen Vorstellungen nichts; aber in dem Falle, in dem ich mir diese Ohnmacht des Erkennens recht innerlich anschaulich mache, werde ich gewahr, wie diese Vorstellungen in mir selbst wirken. Als gewöhnliche Erkenntnisvorstellungen bleiben sie stumm; aber in eben dem Maße, als sich ihre Stummheit dem Bewusstsein immer mehr mitteilt, gewinnen sie ein eigenes inneres Leben, das mit dem Leben der Seele eine Einheit wird.

 

Rudolf Steiner nennt das, was dabei an innerem geistigen Erleben 

an diesen „Grenzorten des Erkennens“ entstehen kann, eine „erste primitive Geist-Wahrnehmung“. Diese ist aber ein vom Leibe unabhängiges, also leibfreies Erleben. Damit hängt dann zusammen:   

Die Abhängigkeit des gewöhnlichen Denkens von den Leibeswerkzeugen wird nun unmittelbare Seelenerfahrung.   

Warum ist das so? Weil 

… sich nun das Denken aus seiner Gebundenheit an die Leibeswerkzeuge heraus löst und zu einer in sich lebendigen Wirklichkeit wird, gegenüber welcher sich alles, was an die Leibeswerkzeuge gebunden ist, nur noch als Zuschauer verhält.

 

Rudolf Steiner weist also mit den oben geschilderten Beispielen Allen, 

die weder mit dem realen übersinnlichen Geistimpuls der „Philosophie der Freiheit“,

aber Alles erstmal rein gedanklich, rein philosophisch –

noch mit der Anthroposophie, noch mit seinem Buch zu einer übersinnlichen Schulung „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ etwas anfangen können oder wollen – 

die also erstmal bei ihrem naturwissenschaftlichen Ansatz ausgehend von der Sinnesbeobachtung bleiben möchten – 

eine Möglichkeit zum Umgang mit diesen Grenzorten des Erkennens, die die eigenen Erkenntnisfähigkeiten erweitern kann. 

Es bedarf also keines Bekenntnisses zur Anthroposophie, keines philosophischen, erkenntnistheoretischen Verständnisses und Neigung, und schon gar nicht eines Impulses, selber übersinnlich forschen zu wollen, um das nachzuvollziehen, was Rudolf Steiner dort in der GA 35 sowie in der GA 21 ausgehend vom gewöhnlichen Bewusstsein, das aber nicht oberflächlich sich verhält, sondern angesichts der Erkenntnisgrenzen – 

die einem – wie gesagt – heute nicht nur als Wissenschaftler entgegenkommen, sondern die auf YouTube zuhauf anzuschauen sind – 

sich dieser Erkenntnisgrenzen tiefer und intensiver – aber eben erlebend – bewusst zu werden. Ein solches Vorgehen wird die Erkenntnisfähigkeiten schon erweitern.

  

Rudolf Steiner schlägt den Menschen und Wissenschaftlern nicht vor, 

dass man doch nur im gewöhnlichen Bewusstsein verharren könne, dass man in diesem nur spekulieren und theoretisieren könne, dass man nicht erkennend weiter könne, sondern dass an diesem Ausgangspunkt noch ganz andere Erlebnisse zu erwarten sind, als man sich das im gewöhnlichen Kopfbewusstsein der gewöhnlichen Biologie und Naturwissenschaft vorstellt. Er schlägt ihnen stattdessen vor – 

und schreibt, dass das möglich ist – 

dass man an diesen Phänomenen – 

statt in diesem gewöhnlichen Bewusstsein zu verharren – 

diese leibgebundene Konfiguration und Konstitution seines gewöhnlichen Bewusstseins verlassen kann und zu einem Erleben eines lebendigen Denkens und eines leibfreien Bewusstseins kommen kann.

Man erlebt nunmehr den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Denken und dem in sich lebendigen Denken. Das gewöhnliche Denken gibt Abbilder von Wesen; es ist aber in sich so wenig eine Wirklichkeit, wie es ein Spiegelbild ist gegenüber dem abgespiegelten Gegenstande. Das lebendige Denken ist eine Wirklichkeit in sich selbst.

Wie gesagt: Das Alles ist möglich ohne irgendwelche Meditationen und okkulte Übungen, sondern alles nur aus der Erfahrung dessen, was man an diesen „Grenzorten des Erkennens“ innerlich erleben kann.     

 

Da sagen die Leute: 

Leibfreies Erleben geht nicht. 

Sagt Rudolf Steiner: 

Stimmt nicht!      

Aber: Man muss Geduld haben: 

Dann erst, wenn man vielleicht oftmals jahrelang an solchen Grenzorten des Erkennens gerungen hat, durchzubrechen in die geistige Welt hinein, dann gelangt man zum Realen von geistigen Organen.

Jahrelang!“ „Oftmals!“ Das geht also nicht von heute auf morgen. Man muss Geduld haben. Auf dem einen oder auf dem anderen Wege.      

 

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