Aus Nr. 335 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 225:
Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn man die ganze Konfiguration – gerade das, was Oswald Spengler anstrebt, aber nicht erreicht -, die Morphologie früherer Kulturepochen, sich geisteswissenschaftlich vor Augen führt, so weiß man: Großes, Gewaltiges, Ehrfurchterweckendes haben diese alten Kulturen hervorgebracht, indem sie geboren wurden, jung wurden, reif wurden, alterten und starben. Aber dasjenige, wozu unsere Kultur berufen ist, was sie aus den tiefsten Tiefen des menschlichen Seelenlebens an die Oberfläche des äußeren Kulturlebens zu tragen hat, das ist das Heranreifen der wahren Freiheitskraft im Menschen. Deshalb versuchte ich, dasjenige, was hervorquellen muss aus den Untergründen des menschlichen Seelenlebens, im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit» darzustellen. Nach diesem Erleben der Freiheit, nach dem Erleben der Freiheit im reinen Intellekt, denn in nichts anderem kann die Freiheit erlebt werden – obwohl anderes im menschlichen Wesen auch wertvoll ist -, nur im reinen Denken kann die Freiheit erlebt werden und dann ausstrahlen auf das ganze übrige Wesen des Menschen. Die Menschheit musste alles das, was sie früher an Mystik, an Okkultismus, an Theosophie aus dem Instinkt heraus wie eine Erkenntnis an die Oberfläche getragen hat, all das musste die Menschheit abstreifen. Es ist heute unmöglich, das, was die Menschheit an alter Astrologie, Mystik, Theosophie, Gnosis erworben hat und was für eine alte Erkenntnis durchaus brauchbar war, das etwa wieder aufwecken, wiederum aufwärmen zu wollen. Was uns heute obliegt, ist, aus dem gegenwärtigen Entwicklungsstandpunkt der Menschheit gerade dasjenige hervorzuholen, was zum Freiheitsbewusstsein führt: das Ergreifen der menschlichen Wesenheit im reinen Denken. Wenn man aber dieses menschliche Wesen im reinen Denken ergreift, dann muss aus diesem Denken heraus geboren werden eine ganz neue geistige Welt. Niemals wurde in alten Kulturen aus dem reinen Denken heraus dasjenige geboren, was wir überliefert haben an geistigen Schätzen, an spirituellen Erkenntnissen. Erst in unserer Zeit kann aus dem reinen Denken heraus eine wirkliche Erkenntnis des Geistes geboren werden, denn diese Erkenntnis des Geistes muss aus dem reinen Denken heraus geboren werden, weil nur auf solche Art der Mensch zu gleicher Zeit im ganzen Entwicklungsgang der Menschheit zur Freiheit, zum wirklichen Freiheitsbewusstsein, das ihm von jetzt ab gebührt in der Erdenentwicklung, heranreifen kann. Und alles, was wir heute an furchtbarer Gegenwart erleben, an Niedergangserscheinungen erleben, es kommt davon her: Weil die Menschheit aus den untersten Tiefen ihres Seelenlebens die kristallhelle Klarheit des Denkens zum Erobern der Freiheit ergreifen soll und weil die Menschheit zu der Stärke, die dazu notwendig ist, heranreifen soll, daher entfallen ihr die alten Wirklichkeiten; sie entfallen ihr zunächst, gehen in den Niedergang hinein, und der Weg muss gesucht werden, wie aus den zerbröckelnden Trümmern des alten Kulturlebens der menschliche Wille aufsteigt, der sich lichtvoll durchdringt mit dem reinen Denken und so zur Freiheit heranwächst.
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