von Ingo Hagel
Es klingt ein wenig wie ein Aufruf aus den siebziger Jahren. Hundert Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker fordern eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Begründung: Ein „Überangebot an den Arbeitsmärkten“ führe zu schrumpfenden Gehältern.
So sagte Hein-Josef Bontrup, Wirtschaftsrechtler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Mitinitiator des offenen Briefs: „Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Projekt Arbeitszeitverkürzung, es kann keine rein tarifpolitische Aufgabe mehr sein.“ Und weiter (Hervorhebung IH):
Bontrup erklärt die Ablehnung mit fehlendem Wissen und Aufklärung. Mancher Gewerkschaftsvorstand kapiere „Dinge aus dem ersten Semester Ökonomie nicht“. Man müsse „die Ware Arbeitskraft verknappen“, sonst würden die Löhne nicht steigen.
Die Hundertschaft an „Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Politikern“, die sich mit ihren Forderungen an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände sowie die Kirchenleitungen in Deutschland wenden, haben Recht, wenn sie das immer krasser werdende Problem anprangern, durch menschliche Arbeit sein Leben und das einer Familie bestreiten zu können. Während die einen arbeitslos werden, ächzen die im Job Verbleibenden unter der immer größer werdenden Arbeitsbelastung. Und auch das andere stimmt sicher, dass eine Verringerung der Arbeitszeit den Bedürfnissen von immer mehr Menschen in einer immer hektischer und immer unsicherer werdenden Arbeitswelt entgegenkäme. Aber dass diese „hundert Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker“ dennoch nicht die wahren Notwendigkeiten der Zeit erfassen, zeigt ihre Aussage, Arbeitskraft für eine Ware zu halten. Das ist ja gerade der Punkt, dass menschliche Arbeitskraft keine Ware ist und niemals als solche betrachtet und auf dem „Arbeits-Markt“ wie Vieh und Kaffee gehandelt werden darf.
Eine weiterer Mangel besteht in Folgendem: Obige Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker erklären die vorhandene bestehende, gerade jetzt benötigte Arbeit für ein Fixum und wollen diese Portion auf alle verteilen. Das heißt, sie können nicht über die bestehende Situation hinausdenken. Denn wer sagt denn, dass es nicht noch viel mehr benötigte Arbeit gibt als nur für 30 Wochenstunden für jeden – und dass unter veränderten und menschlicheren Arbeitsbedingung gerne auch mehr gearbeitet werden würde? Aber das muss doch aus dem Bedarf und den Kräften der Gesellschaft selbst geregelt werden. Man kann ja die 30-Stunden-Woche fordern. Aber wenn das die Leistungsfähigkeit des sozialen Ganzen nicht hergibt, hilft alle Forderung nichts. Und wie ich immer wieder mit Blick darauf, dass menschliche Arbeitskraft keine Ware ist, schreibe, ist diese Leistungsfähigkeit in Deutschland zwar groß, aber ungleich verteilt. Wirklich sozial fortschrittlich wäre es daher, wenn nicht die Arbeit verteilt und reglementiert würde, sondern wenn solche rechtlichen Regelungen (Gesetze) erlassen würden, auf dass der in einer Firma gemeinsam von allen erwirtschaftete Ertrag nicht von einzelnen Managern und vielen „Besserverdienenden“ als deren unmässige und unverhältnismäßige Gehälter – auf Kosten der übrigen Arbeitenden – abgezweigt werden. Ebenso wenig darf dieser Betrag vom Staat entwendet werden (als Spitzensteuersatz für die räuberischen Großverdiener):
Linke will 100-Prozent-Steuer für Spitzengehälter – Damit würde die arbeitende Bevölkerung aber nur ein zweites Mal betrogen, nur diesmal nicht vom Unternehmer, sondern vom Staat
Stattdessen muss das „gesamtgesellschaftliche Projekt“ darin bestehen, die rechtlichen Grundlagen für eine gerechte Verteilung dieses gemeinsam von Allen erwirtschafteten Gewinns in einer Firma gerecht zu verteilen.
Man stelle sich vor: In einer Firma wird nicht von den Arbeitgebern von oben ein „Lohn“ festgesetzt, der den Arbeitnehmer zwingt, seine „Ware“, die Arbeitskraft, zu unmenschlichen Dumpingpreisen verkaufen zu müssen. Sondern es verhandeln stattdessen alle Mitarbeiter über die Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Erlöses. Was für eine heilsame Begegnung wäre dies, wenn das Management, das sich heute über Vorstandsentscheidungen anonym aus den Kassen des Unternehmens bedienen kann, gezwungen wird, Auge in Auge den Mitarbeitern entgegenzutreten und seine Vorstellungen vom Anteil an dem Erwirtschafteten zu rechtfertigen. Es müsste erklären, warum die Arbeiterschaft oft so wenig verdient, bestimmte Kreise sich aber berechtigt fühlen, das 50-, 100- oder 1000-fache deren Gehälter zu fordern. Anstatt dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, könnte eine solche Umverteilung mehrere positive Effekte haben: zum einen könnten zusätzlich zu einer besseren Bezahlung der Belegschaft evt. mehr Mitarbeiter eingestellt werden, was die gnadenlose Hektik und den Zeitdruck verringern würde. Zum anderen könnte aber auch die Arbeitszeit verringert werden, von mir aus auf 30 Stunden die Woche – wenn die Firma das hergibt, und wenn die darin arbeitenden Menschen das wollen. Aber das läge nicht im Ermessen einer Bürokratie von oben, sondern an den Menschen, die ihren Betrieb kennen – und erhalten wollen.
Man wird dann auch sehen, dass unter solchen Bedingungen in der Gesellschaft sehr viele Initiativen und neue Arbeitsbereiche entstehen werden, und dass man wohl mit der jetzt geforderten maximalen Arbeitszeit von nur 30 Wochenstunden gar nicht auskommen wird. Denn Arbeit gibt es genügend, es ist ja nicht wahr, dass es Arbeitslosigkeit gibt. Nur eine Arbeit zu finden, mit der man sich und seine Familie menschenwürdig und mit einer Perspektive für die Zukunft und fürs Alter ernähren kann, das ist das Problem (s. zum Beispiel den Fall der jungen Altenpflegerin in der Talkrunde bei “Anne Will”). Aber wie gesagt, es ist ein Verteilungsproblem.
Dieses ganze Geschwätz von der Arbeit, die eine Ware sein soll, ist ideell rückwärtsgewandt, ideell anspruchslos und dazu unmenschlich. Denn wäre Arbeit wirklich eine Ware, die man künstlich verknappen darf, wie die hundert „Wissenschaftler, Gewerkschafter und Politiker“ es fordern, dann könnte man die Menschen und ihre Arbeitskraft, wenn sie nicht gebraucht werden, zum Beispiel wie überschüssige und daher nicht verkäufliche Kartoffeln oder Pfirsiche einfach auf die Müllhalde kippen, wie es früher in Zeiten der landwirtschaftlichen Überproduktion so oft geschah. So darf man mit Menschen nicht umgehen. Diese sind keine Ware, sondern haben einfach durch ihr Dasein ein Recht auf ein menschengemäßes Leben. Wie dieses Recht in Einklang mit den Bedürfnissen und dem Leistungsvermögen des sozialen Organismus gebracht wird, darauf habe ich versucht, auch durch obige Links hinzuweisen.
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