Rudolf Steiner: Willensimpulse der Menschengruppen werden sich in der mannigfaltigsten Weise durchdringen, gegenseitig bekämpfen

 

Aus Nr. 185a der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 172:

Ich habe in den letzten Betrachtungen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus versucht, Ihnen die Ideen und Impulse ein wenig vorzuführen, welche seit langer Zeit die proletarischen Kreise bewegen, in den proletarischen Kreisen leben, und die gerade das Allerwesentlichste zu dem beitragen werden, was von der Gegenwart ab in die nächste Zukunft hinein weltbewegende Ereignisse sein werden. Ich möchte heute, um diese Betrachtungen dann morgen zu einer Art von Abschluß zu bringen, auf manches hinweisen, was gewissermaßen aus der Vergangenheit her an Kräften für die Gegenwart vorhanden ist, was für den genauer, namentlich für den geisteswissenschaftlich Beobachtenden, wahrnehmbar ist an die Geschicke der Menschheit bestimmenden Kräften, die sich in der Vergangenheit vorbereitet haben, jetzt da sind, die aber eigentlich nicht so an der Oberfläche liegen, wie die meisten Menschen heute glauben, die aber berücksichtigt werden müssen von jedem, der an irgendeinem Punkte der Weltentwickelung, und an einem Punkte steht ja jeder, wird teilnehmen wollen bei der Gestaltung der Ereignisse – man kann schon von solcher Gestaltung der Ereignisse sprechen – die sich von der Gegenwart in die Zukunft hinein bilden wird.

Dasjenige, was geschieht, geschieht ja immer aus bestimmten Kräften heraus, die da oder dort ihr Zentrum haben und die dann ausstrahlen nach den verschiedensten Richtungen hin. Wir haben gesehen, wie in den letzten viereinhalb katastrophalen Jahren gewissermaßen nach den verschiedensten Richtungen hin sich lang, lang vorbereitende Kräfte entladen haben, wie sie die verschiedenste Form angenommen haben, so dass tatsächlich dasjenige, was in den letzten viereinhalb Jahren geschehen ist, deutlich voneinander unterscheidbare Epochen, wenn sie auch der Zeit nach kurz sind, zeigt, und man nicht damit auskommt, wenn man etwa in Bausch und Bogen diese Ereignisse der viereinhalb letzten Jahre eben einfach als den «Krieg» der letzten Jahre bezeichnet. Die Ereignisse sind an einem gewissen Punkte, ich mochte sagen, zu einer kriegerischen Entzündung gekommen. Dann aber traten zu den Dingen, die zuerst, ich möchte sagen, mehr illusionär in die Menschenbewusstseine hereinleuchteten und die auch in der allerillusionärsten Weise von den breitesten Kreisen gedeutet worden sind, ganz andere Kräfte hinzu. Die Entschlüsse der Menschen, die Willensimpulse der Menschen wurden in verhältnismäßig kurzer Zeit ganz anders, als sie vorher waren. 

Das alles will sorgfältig berücksichtigt werden. Man wird nämlich in der Zukunft sehen, dass da und dort diese oder jene Willensrichtungen auftauchen werden. An einer Stelle, in einem Zentrum wird man das, in einem anderen Zentrum jenes wollen. Diese Willensimpulse, die von Menschengruppen ausgehen werden, die werden sich in der mannigfaltigsten Weise durchdringen, gegenseitig bekämpfen. An eine Harmonie der wirksamen Kräfte ist dabei nicht im allerentferntesten zu denken, sondern es ist zunächst nur daran zu denken, dass der einzelne sich wirklich Verständnis für dasjenige erwirbt, was da oder dort auftritt. Heute sind die wenigsten Menschen überhaupt vorbereitet dazu, das oder jenes in der richtigen Weise zu taxieren, was auftreten wird, denn man hat sich zu sehr gewöhnt, die Dinge nach vorgefassten Meinungen, nach Schlagworten zu beurteilen. Man hat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts und bis heute sich nach und nach so erzogen, dass man den Blick abgelenkt hat von demjenigen, worauf es eigentlich ankommt. Dadurch ist man auch kaum irgendwo heute leicht in die Lage versetzt, das Gewicht der Willensimpulse, die von dieser oder jener Menschengruppe ausgehen, in der richtigen Weise zu taxieren. Dafür hat der Verlauf der letzten Ereignisse hinlängliche Beweise geliefert. Diese Beweise werden einmal von der Geschichte verzeichnet werden. Vielleicht schneller, als die Menschen glauben, werden sie von der Geschichte verzeichnet werden. Aber für denjenigen, der sich ein irgendwie die Ereignisse berührendes Urteil bilden will, für den ist es notwendig, dass er heute schon den Willen entwickelt, die Ereignisse zu taxieren, die Ereignisse abzuschätzen. Ich sage: Beweise finden sich für das, was ich eben gesagt habe, in Hülle und Fülle. Man braucht nur einen schlagenden Beweis zu liefern, einen Beweis, dessen Tragkraft leider, leider noch allzusehr in die Gegenwart hereinragt, indem in dieser Hinsicht noch immer an den Orten, wo die Urteile nicht getrübt sein sollten, diese Urteile vielfach getrübt sind. Wir haben nämlich im Laufe der letzten Jahre die betrübende Erfahrung gemacht, daß gerade Menschen, die in verantwortungsvollen Stellungen waren da oder dort auf den verschiedensten Gebieten, daß Leute, die das oder jenes zu lenken oder zu leiten hatten oder auch nur das oder jenes zu beurteilen hatten – denn vom Urteil hängt ja sehr viel ab, von der sogenannten wahren öffentlichen Meinung, die manchmal eigentlich die unausgesprochene Gedankenmeinung der Menschen ist und die doch eine gewisse tiefe Bedeutung hat -, wir haben die Erfahrung gemacht und sie wirkt eben in die Gegenwart noch herein, daß sich Leute an maßgebenden Stellen oder auch an nichtmaßgebenden Stellen, die aber doch in Betracht kommen, über alles, über was sie hätten ein gesundes Urteil haben sollen, sich Illusionsurteile gebildet haben. Ich habe zum Beispiel berührt die Tatsache, daß gerade dem deutschen Volke vom Auslande dadurch ein übles Urteil angehängt worden ist, das mehr als man glaubt im Laufe der letzten Ereignisse gewirkt hat: das ist das Urteil über den deutschen Kaiser. Dieses Urteil über den deutschen Kaiser, es berichtigt sich ja jetzt durch die allerletzten Ereignisse ein wenig, aber es fängt eigentlich erst an, sich zu berichtigen. Das Übelste an diesen Urteilen war dasjenige, was geradezu verheerend gewirkt hat, daß man diesen Mann für einen bedeutenden Mann gehalten hat. Hätte man ihn nicht für einen bedeutenden Mann, sondern für einen höchst unbedeutenden, überhaupt für die Ereignisse gar nicht in Betracht kommenden Menschen gehalten, wie er war seit seinem Regierungsantritt durch alle Jahre hindurch, so würde auch nicht jenes schlimme Urteil des Auslandes zustandegekommen sein, welches – die Geschichte wird es schon ausweisen – größere Verheerungen angerichtet hat, als man sich heute noch irgendwie vorstellen kann. 

Nicht wahr, es wird allerdings ein wenig zur Berichtigung beitragen, wenn man hinsehen wird auf die heillose Angst, die wenige Leute in Deutschland hatten, als dieser Mann, noch in den letzten Tagen sich sträubend gegen den Rücktritt, ins Hauptquartier floh, um im Hauptquartier möglicherweise irgendeine Auskunft zu finden, sich doch zu halten, die alten Zustände irgendwie doch zu halten. Wenn man richtig taxieren konnte die Stimmen derjenigen, die ja immer rieten, er soll nach Berlin zurückkehren, wohin er gehört, so muß man sagen, daß daran sich eben das Gewicht von notwendigen Urteilen zeigt. Die Dinge müssen eben nicht nur gedacht werden, sie müssen taxiert werden, sie müssen gewogen werden. Es ist im höchsten Grade leichtsinnig, wenn zum Beispiel in einer Basler Zeitung gestern ein Artikel erschienen ist gewissermaßen zur Entschuldigung des deutschen Kaisers und zu einer Anklage des deutschen Volkes. Dieses deutsche Volk hat wahrhaftig genug gelitten durch Jahrzehnte hindurch durch all dasjenige, was gerade durch die Unbedeutendheit und durch die theatralische Aufbauschung aller Verhältnisse, durch das unleidige Tyrannisieren geleistet worden ist. Und wenn von einem «Deutschen im Auslande», so wie es in dieser Basler Zeitung gestern geschehen ist, dieses deutsche Volk jetzt angeklagt wird in der dümmsten Weise, um die törichte Behauptung zu tun, daß dieser Mann bloß ein Exponent des deutschen Volkes gewesen wäre – was er durchaus nicht gewesen ist – so ist das ein bodenloser Leichtsinn, der unbedingt gerügt werden muß. Es kommt heute darauf an, daß solch leichtsinnige Urteile nicht gerade in den angrenzenden Ländern Platz greifen, daß die Menschen hinschauen auf solche Urteile, die die ganze Atmosphäre, in die wir eintreten müssen, geeignet sind zu verpesten. 

Diese Dinge müssen wirklich heute mit einem durchdringenderen Blick angesehen werden. Man muß nicht schlafen diesen Dingen gegenüber, man muß wachen. Man muß wirklich diese Dinge mit einem nicht emotionellen, aber mit einem wirklich verstandesmäßigen Temperament aufzunehmen in der Lage sein, und man muß eine Entrüstung empfinden, gedankenmäßig empfinden, wenn derlei Torheiten heute in die Welt gesetzt werden, die geeignet sind, ein sachgemäßes Urteil vollständig zu verrücken. Und ein sachgemäßes Urteil ist heute vor allen Dingen notwendig. Versuchen Sie es einmal, die Dinge wirklich so zu nehmen, wie sie heute genommen werden sollen, indem man sie in ihrem Gewichte nimmt, indem man nicht über die Dinge, die Stimmung machen, die Meinungen in der Welt verbreiten, mit einem gleichgültigen Humor, der kein Humor ist, hinweggeht und alle fünfe gerade sein läßt, da es sich doch um Ereignisse handelt, die, jedes einzelne an sich, von einer ungeheueren, weittragenden, welthistorischen Bedeutung sein können. Diese Dinge müssen heute auch auf einem eindringlicheren Hintergrunde beobachtet werden. Und ich möchte so gerne es erleben, daß in den Herzen derer, die sich zur Anthroposophie bekennen wollen, etwas einzöge von dem, was ich ein welthistorisches Urteilsvermögen nennen möchte. Ich möchte, daß etwas einzöge in Ihre Herzen von dem, was die Wichtigkeit des Augenblickes ausmacht, daß wirklich hinausgekommen werde über die Stimmung, die niemals vorhanden war da, wo ich versuchte, anthroposophisch orientierte Weltanschauung in die Welt zu bringen, daß hinausgekommen werde über die Stimmung, die das, was in der Anthroposophie vorgebracht wird, nur nimmt wie eine Sonntagsnachmittagspredigt, wie etwas, was nur zur Wärmung der Herzen und zur Beruhigung, zur Temperierung der Seelen bestimmt ist. Nein, alles gerade auf dem Boden anthroposophisch orientierter Weltanschauung war dazu bestimmt, die Herzen und die Seelen hineinzuleiten in jene Weltenströmung, die sich heraufzog seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, die hinwies immer mehr und mehr auf die bedeutenden, großen Ereignisse, die zur Erschütterung der Menschheit kamen und noch immer mehr und mehr kommen werden. Alles war darauf abgesehen, die Herzen hinzulenken auf die Kräfte, die wirken, nicht bloß auf irgendein Gern-Hören desjenigen, was so ein wenig die Seelen temperiert und was so ein wenig die Herzen erwärmt, damit man, wenn man aufgenommen hat, was anthroposophisch orientierte Weltanschauung bietet, dann mit einer gewissen beruhigteren Seele schlafen kann, als man sonst schlafen kann. Der einzelne ist heute gar nicht in der Lage, bloß auf sich zu sehen, bloß gewissermaßen eine Art neue Religion zu empfangen zur Beruhigung seines einzelnen Herzens. Dasjenige, was von der Menschheit gefordert wird, ruft den einzelnen auf, teilzunehmen an demjenigen, was durch die menschliche Sozialität wogt und wallt. 

Dazu ist eben notwendig, daß man die Dinge auf einem größeren Hintergrund betrachtet. Ich gebe ja zu, daß es notwendig war im Lauf der letzten Jahre, unter den Impulsen, die anthroposophisch orientierte Weltanschauung herantragen soll zu den Herzen der Menschen, schnell hintereinander, weil die Zeit drängte, vieles zu bringen, schnell die Ideen einander ablösen zu lassen. Hätte man manchmal zu demjenigen, was man im Laufe einer Woche vorzubringen hatte, einen Monat oder noch länger Zeit gehabt, hätte man es in kleinen Portionen bieten können, was durch den Drang der Zeit notwendigerweise schnell an die Herzen herangebracht werden mußte, es wäre vielleicht tiefer in die Seelen hineingezogen. Aber das ging ja nicht. Die Zeit drängte, und die Ereignisse haben bewiesen, daß die Zeit drängte. Ich gebe zu, daß durch die Schnelligkeit, mit der die Lehren der anthroposophisch orientierten Weltanschauung an die Mitglieder der anthroposophischen Bewegung herangetreten sind, wirklich zuweilen die Tatsache vorlag, daß das Spätere das Frühere ausgelöscht hat. Allein man kann nicht in einer so ernsten Sache sein, ohne seinen ganzen Sinn zu ändern. Und in gewissem Sinne erneuert sich in der Gegenwart das Wort, welches zur Zeit der Begründung des Christentums immer wieder und wieder gesprochen werden mußte: Ändert den Sinn. Darauf allein kommt es nicht an, daß wir inhaltlich diese oder jene Lehre aufnehmen; darauf kommt es an, daß wir die ganze Sinnesrichtung ändern, daß wir alles abstreifen, was bestimmend war für die Richtung unseres Urteils aus dem neunzehnten Jahrhundert heraus, was man wirklich nennen kann, wie ich es vorhin anläßlich einer Ansprache eben benannt habe, das Jahrhundert der unanständigen Psychologie, der unanständigen Seelenrichtung, wo man, wenn man in die menschliche Seele hineingeschaut hat, wegen jenes mangelnden Vertrauens zu den göttlich-geistigen Kräften der Seele, von dem ich gestern sprach, innerhalb der menschlichen Seelen nur Willkür oder nur Ohnmacht oder nur Tatlosigkeit sehen kann, wo man niemals so etwas begriffen hat wie das Fichtesche Wort: «Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht.» – Dieses neunzehnte Jahrhundert war ein Jahrhundert großer wissenschaftlicher Errungenschaften. Allein diese Errungenschaften waren derart, daß sie den Willen der Menschen gelähmt haben und daß sie den Glauben erweckt haben, alles das, was aus der Menschenbrust kommt, komme nur als rein Zufälliges aus dieser Menschenbrust heraus. Daß aus jeder Menschenbrust heraus das Göttlich-Ewige strahle und daß jeder Mensch verantwortlich ist, das Göttlich-Ewige durch sich darzustellen, das ist es, was das neunzehnte Jahrhundert vollständig unterdrückt hat, das ist es, was das Goethe-Zeitalter hineingeführt hat in das Zeitalter des Spießertums; das ist es, was macht, daß die heutige Intelligenz so unvorbereitet ist für alles das, was ich Ihnen angegeben habe und was durch Millionen und Abermillionen Proletarierseelen als Impuls zieht. 

Verstehen, darauf kommt es zunächst in der Gegenwart an. Tun, dazu wird erst die Gelegenheit kommen, wenn die Menschen sich wirklich angestrengt haben zu verstehen. Nichts von dem, wovon heute zum Beispiel das Bürgertum glaubt, dass es gut sein könnte in der Zukunft, nichts von dem wird irgendwie angreifen diejenigen Impulse, die ich Ihnen in diesen Tagen als die Impulse des von unten nach oben strebenden Proletariats angegeben habe. Manches wirkte, wenn es nicht so tragisch wäre, tragikomisch, was heute an Quacksalberei ausgeht von denjenigen, die durch Jahrzehnte Gelegenheit gehabt hätten, zu lernen an den Ereignissen und die an diesen Ereignissen gar nichts gelernt haben. 

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