Verkleiden oder Verwandeln? 

 

von Stella Hagel

 

Auf einem Spaziergang traulich Hand in Hand in sinnende Gespräche vertieft machte mich mein Vater darauf aufmerksam, dass bald wieder die Faschingszeit nahe und frug mich, ob ich schon wüsste, wer oder was ich diesmal sein wolle. Im letzten Jahr, so erinnerte ich mich, war ich vier Jahre alt gewesen und hatte mir gewünscht, ein ganz feines, zartes Elfchen auf dem Faschingsfest zu sein. Meine Mutter hatte sich mit den durchsichtigen schimmernden und glitzernden Flügelchen sehr Mühe gegeben, bis sie mich hatte zufriedenstellen können. Mit zierlichen roten Schuhen, einem Elfenkleidchen und einer großen Schleife im Haar hatte ich mich wirklich elfengleich gefühlt, jedoch so zerbrechlich, dass ich die Hand meiner Mutter zu deren Leidwesen auf dem Fest selten loslassen konnte, hatte sie doch außer mir noch ein kleines Hoppelhäschen, meine kleine Schwester zu betreuen. 

Widerwillen erfasste mich nun, ein Jahr später bei dieser Erinnerung, und ich erklärte dem Vater, so etwas Zartes wolle ich nicht wieder sein. Allerdings müsse ich nun ein Stück alleine gehen, um besser nachdenken zu können. Verständnisvoll ließ der Vater meine Hand los, und dann ging ich eine Weile ein ganzes Stück hinter ihm, in recht angestrengte Überlegungen versunken. Sehnsucht nach etwas Kraftvollem wuchs mächtig in meiner Seele, und plötzlich wusste ich genau, was ich wollte. Sankt Michael! Ja! Leuchtend mit einer goldenen Rüstung, Helm und Schwert sah ich ihn vor mir! Ja, der wollte ich sein. Als ich mir ausmalte, wie ich als Sankt Michael sein und aussehen würde, geriet ich innerlich in mächtige Begeisterung und wurde etwas über mich hinausgehoben, so dass ich um mich herum nicht mehr alles wahrnehmen wahrnahm. Und dann gab es einen gewaltigen Rums, als ich mit dem Gesicht, Nase, Stirne und Zähnen sehr schmerzhaft gegen einen Laternenmast stieß. Es tat furchtbar weh, und ich sah um mich herum alles voller Sternchen. Halb blind vor Schmerz und Schock lief ich schnell zum Vater und suchte wie ein verirrter Vogel seine Hand auf. Aus einem bestimmten Grund gab ich aber keinen Laut des Schmerzes von mir. Auch hatte der Vater von meinem Zusammenstoß nichts bemerkt, schaute daher nicht auf meine Seite, sondern führte mich einfach ruhig weiter des Weges, sogar ohne in mich zu dringen, ob ich wegen des Faschingsfestes zu einem Entschluss gekommen sei. Warum aber gab ich keinen Laut von mir, obwohl der Aufprall so gewaltig gewesen war, dass meine Zähne sich zum Schrecken meiner Eltern vorzeitig lockerten? 

Ja, der Grund war meine furchtbare Scham über das, was ich nach dem Zusammenstoß als furchtbaren Hochmut meinerseits empfand. Und wie tief fühlte ich mich bestraft und beschämt von der Höhe meiner Begeisterung heruntergestoßen. Sehr klein fühlte ich mich, und es war mir klar, der Sankt Michael konnte und durfte ich nimmer sein. Traurig trippelte ich neben meinem Vater eine Weile einher. 

Da regte sich in meiner Seele auf einmal ein neues Gefühl. Ein bisschen so, wie wenn sich in mir eine Stimme erhöbe, die mir sagte: „Aber ganz brauchst Du Dich dennoch nicht entmutigen zu lassen, Du darfst nämlich ein Ritter sein, Du weißt doch, dass der Ritter Sankt Georg der Streiter und Helfer Michaels auf der Erde ist. Und – kleinlaut zwar – entschloss ich mich. Ich wollte zu Fasching der Sankt Georg sein, nicht mit einer goldenen sondern mit einer silbernen Rüstung. Diesen Entschluss teilte ich den Eltern beim Heimkehren mit, und wieder stand meine Mutter vor der nicht geringen Aufgabe, einen würdigen Helm sowie Schild und Schwert meinen Anweisungen gemäß und zu meiner Zufriedenheit herzustellen. Es gelang alles wunderbar und wurde sorgfältig mit Silber besprüht. Im Gegenzug zu den Anstrengungen fiel meiner Mutter eine für mich große Herausforderung ein: „Stellachen,“ begann sie, „jetzt, wo Du eine so schöne Ritterrüstung bekommst, könntest Du mir doch die Freude machen, bei der Faschingsfeiser das Sankt Georgslied zu singen und im Kreise mit kräftigen Schritten zu stampfen, wie wir es hier zu Hause geübt haben in der Michaelizeit.“ 

O je! Das war für mich schüchternes Wesen ein schlimmes Ansinnen. So in den Vordergrund zu treten war meine Sache nicht, und das Elfchen in mir sträubte sich gewaltig dagegen. Doch sah ich auch wiederum ein, dass die schwer errungene Ritterschaft einer Tat bedurfte, und versprach tapfer, dass ich es tun wolle. Und bebenden Herzens tat ich es vor aller staunenden Augen wirklich. Stapfte festen Schrittes im Kreis herum und sang – von meiner Mutter unterstützt – mit erhobenem Schwert das Lied vom Sankt Georg, der ein Schutzherr aller Ritter wurde und der Helfer Sankt Michaels auf der Erde.