von Ingo Hagel
In einem vorigen Beitrag schrieb ich zum FDP-Politiker Lars Lindemann, der die Hartz IV Bezieher aus der Berliner Innenstadt an den Stadtrand drängen will, das heißt diese höflich zum freiwilligen Verlassen ihrer Wohnung auffordert. Was ich dazu zu sagen hatte, habe ich dort ausgeführt. Hier möchte ich auf Lindemanns Glauben eingehen, der Mensch würde sein Geld selber verdienen:
„Jemand, der von Sozialhilfe lebt, kann nicht denselben Anspruch haben, wie jemand, der sein Geld selbst verdient“, sagte er im Gespräch mit der „Bild“-Zeitung.
Anmerkung: Selbstverständlich wird jemand, der von Sozialhilfe leben muss, die gleichen Ansprüche haben wie andere Menschen auch, nur wird ihm aufgrund seiner unzureichenden finanziellen Mittel die Möglichkeit fehlen, diese Ansprüche befriedigen zu können. Aber lassen wir diese kleinen logischen Ungenauigkeiten des Herrn Lindemann einmal unberücksichtigt.
Die praktischen Lebensweisheiten und Ratschläge des Herrn Lindemann an die Hartz-4-ler – nämlich doch bitte freiwillig ihre Wohnungen zu verlassen und an den Stadtrand zu ziehen, damit Investoren in der Innenstadt ihr Geschäft machen können – sind nur die Konsequenz eines Denkens, das heute im weitesten Sinne das Bewusstsein der Menschen beherrscht. Wie Viele mögen es heute sein, die mit Lars Lindemann überzeugt sind, dass Sie „ihr Geld selber verdienen“? Und wenn man dies nicht tut, dann müsse man eben die Folgen – seines Versagens – tragen. Dabei können doch bereits einfache Überlegungen einen darauf hinweisen, dass man schon die Arbeit heute nicht mehr für sich selber verrichtet – geschweige denn, dass man „sein Geld selber verdient“.
Zu alten Zeiten, wo die Menschen Jäger und Sammler waren, hat es vielleicht noch einigermaßen gestimmt, dass der Einzelne von dem lebte, was er selber gejagt oder gesammelt hat – ganz abgesehen von dem heute sicher als altmodisch angesehenen Einwand, dass dem Jäger und Sammler diese Naturalien von der gütigen Natur bereitgestellt wurden. Heute aber in unserem hoch arbeitsteiligen Wirtschaftsleben könnte es einem völlig selbstverständlich und deutlich werden, dass man nicht für sich sondern für den anderen Menschen arbeitet. Denn diejenigen Gegenstände des täglichen Lebens, an deren Herstellung man (innerhalb des heute äußerst spezialisierten und differenzierten Wirtschaftsprozesses allerdings nur noch höchst punktuell) beteiligt ist, verbraucht man nicht selber – man stellt sie für Andere her. Sie sind daher auch nicht Grundlage für die Sicherung des eigenen Lebens. Diese Grundlage kommt von den anderen arbeitenden Menschen, indem diese einem die Produkte, die man selber zum Leben benötigt, durch ihre Arbeit zur Verfügung stellen. Und da wir heute keinen Tauschhandel mit Naturalien mehr haben, wird man von den anderen, für die man arbeitet, eben mit Geld bezahlt oder „entlohnt“, wie man es heute gewohnt ist zu nennen.
Man stelle sich nur einmal konkret vor, wie verloren und ärmlich das eigene praktische Leben aussehen würde ohne die verschiedensten Produkte, technischen Geräte und Dienstleistungen, die man heute so selbstverständlich nutzt, wenn nicht viele andere Menschen an der Bereitstellung dieser Dinge für einen arbeiten würden. Wir verdanken unser angenehmes Leben der Arbeit anderer Menschen – für uns!
Es ist also ein fundamentaler Irrtum, wenn Menschen wie Lars Lindemann glauben, dass sie „ihr Geld selbst verdienen“. Sie verdanken dieses Geld den anderen Menschen (Herr Lindemann den Steuerzahlern), die es aber ebenfalls erst einmal selber erarbeiten müssen, das heißt wiederum von anderen Menschen erhalten müssen, damit es dann an andere weitergereicht werden kann. Man kann „sein“ Geld also genauso wenig „selbst verdienen“, wie man sich alles, was man zum Leben braucht, heute selber aus der Natur erjagen und ersammeln kann.
Es ist nur der heute herrschende Egoismus im Wirtschaftsleben (und auch im sonstigen Leben), der die Menschen zu dieser Meinung verführt. Diese Vorschläge zur Güte des Herrn Lindemann, die Hartz-4-ler sollen sich doch bitte an den Stadtrand verziehen, sind ja nur eines der ersten Aufflackern dieser wachsenden unsozialen Auffassung. Dieses gibt sich harmlos-praktisch und scheint für die meisten Menschen heute klar wie Kloßbrühe zu sein, ist aber prinzipiell und beinhart gegen das Leben anderer Menschen gerichtet, die ihr Geld – ganz im Gegensatz zu dem tüchtigen Herrn Lindemann – nicht „selber verdienen“.
Anmerkung: Lars Lindemann ist mit seiner Auffassung beileibe nicht alleine, sondern reiht sich würdig auch in die Riege altgedienter „Sozialdemokraten“ zum Beispiel vom Schlage eines Franz Müntefering ein, der mit Blick auf die arbeitsunwilligen Hartz-4-ler irrtümlich glaubte, sich auf die Bibel stützen zu können, indem er meinte: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Ein Satz, der von Adolf Hitler aufgegriffen und „weiterentwickelt“, dann in der sogenannten Stalin-Verfassung von 1936 missbraucht wurde und schließlich als „Erlass des Obersten Sowjets vom 4. Mai 1961“ in die (diesmal nicht national-) sozialistische Geschichte einging.
Rudolf Steiner hatte in Voraussicht auf diese unheilvollen Entwicklungen hin bereits im Jahre 1905 das formuliert, was er das Soziale Hauptgesetz nannte. Dieses beschreibt die Voraussetzung für das Gedeihen einer Gemeinschaft von zusammenarbeitenden Menschen als den Verzicht des einzelnen Mitarbeiters auf das Erträgnis seiner Arbeit. Stattdessen soll er aus dem versorgt werden, was die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft erarbeiten. Und meint man dennoch, die Früchte seiner Arbeit und seiner Leistungen selber in Anspruch nehmen zu dürfen, dann würde dies eben nach einer gewissen Zeit zwangsläufig zu Elend und Not dieser Gemeinschaft führen:
Das von Rudolf Steiner formulierte Soziale Hauptgesetz: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“
Das entspricht natürlich gewaltig den heutigen Denk- und Lebensgewohnheiten. Aber mit den sozialen Realitäten dieser Missachtung leben wir heute. Denn offensichtlich ist das, was Rudolf Steiner formulierte, ein Gesetz, das ebenso gilt wie zum Beispiel die chemischen Gesetze (aufgrund derer man zum Beispiel im Labor besser niemals Wasser in konzentrierte Säure gießt, sondern immer umgekehrt):
Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. – Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt.
Später machte Steiner darauf aufmerksam, dass derjenige, der gegen dieses Gesetz verstößt, gegen den sozialen Organismus selber arbeitet, das heißt diesen zerstört:
Wer gegen dieses Gesetz verstößt, der arbeitet gegen den sozialen Organismus. Deshalb arbeitet man gegen den sozialen Organismus, wenn man weiter verwirklicht dasjenige, was sich im neueren geschichtlichen Leben ergeben hat, dass man den proletarischen Arbeiter von dem Erträgnis seiner Arbeitskraft leben lässt.
Heute stehen wir tief in den zerstörerischen Folgen drinnen, die sich aus einer Missachtung dieses sozialen Gesetzes ergeben, indem Politiker, also Vertreter des Rechtslebens, ihr dekadentes – das heißt zum Beispiel den realen Erfordernissen der Zeit nicht genügendes – Rechtsempfinden in die ganz von sich selbst überzeugten aber unmenschlichen Vorschläge und Gesetze ausfließen lassen. Und das wird immer weiter so gehen und immer extremer werden, wenn nicht neue soziale Ideen gefasst und umgesetzt werden – von denen allerdings die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen die Idee des Sozialen Hauptgesetzes Rudolf Steiners missversteht:
Anmerkung aus einem Beitrag von Sylvain Coiplet zum bedingungslosen Grundeinkommen: „Wer Rudolf Steiner und das soziale Hauptgesetz für seine Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen vereinnahmen möchte, sieht nicht, dass Rudolf Steiner das Einkommen gerade an eine Bedingung knüpfen will. Wer das soziale Hauptgesetz einsieht, strebt eine soziale Ordnung an, wo die Arbeit erst dann zum benötigten Einkommen führt, wenn sie wirklich für das Wohl anderer Menschen geleistet worden ist. Wer – wie heute noch üblich – erst in Massen produziert und seine Produkte über Werbung in den Markt drückt, hat eigentlich nicht für seine Mitmenschen, sondern für sich selber gearbeitet. Er hat nur sein Einkommen im Sinn gehabt. Lässt die soziale Ordnung solche Spielchen zu, führt dies unweigerlich zu weniger Wohlstand für andere Menschen. Dasselbe gilt aber, wenn alle ein bedingungsloses Grundeinkommen beziehen würden. Sie würden sich genauso wenig darum scheren müssen, was ihre Mitmenschen brauchen. Sie könnten es sich genauso wie heute leisten, für sich selber statt für die anderen zu arbeiten.
Heute wird die Wirtschaft immer weniger als ein Dienst am anderen Menschen betrachtet, sondern als ein Dienst an einem selber, das heißt als clevere Möglichkeit, um möglichst schnell – und zwar auf Kosten anderer, die man dann möglichst schlecht bezahlt – reich zu werden. Die Leute in den oberen Wirtschaftsetagen machen sich die dazu nötigen Gesetze und Vorschriften selber, um zu „ihrem Geld“, das sie „selber verdient haben“, zu kommen. Ein Beispiel – von so vielen anderen in unserer Zeit – ist gerade eben durch die Presse gegangen: der ehemalige Ministerpräsident Roland Koch musste seinen Job bei Bilfinger aufgeben, erhält aber wohl gemäß Vertrag „sein Geld“ für die nächsten zwei Jahre weiter:
Sollte der Aufsichtsrat den Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen auflösen, bekommt der 56 Jahre alte Koch seine Bezüge noch zwei Jahre lang bis Ende des regulären Vertragslaufzeit 2016 ausgezahlt.
Insgesamt wären das 4,6 Millionen € an leistungslosem Einkommen, die Koch aufgrund der vorhandenen Gesetze (ist ja alles legal) für „sich erarbeitet hat“, die aber von den anderen Menschen dieses Konzerns erst einmal erwirtschaftet werden müssen. Ich rechne mal: 4,6 Millionen Euro verteilt auf 9 Jahre bis zu Kochs Pensionierung….
Roland Koch und so viele andere innerhalb dieser hohen Positionen des Wirtschaftslebens erhalten enorme Summen Geld – das anderen Menschen weggenommen wird – auch wenn sie nichts geleistet haben. Leute wie Lars Lindemann sind sicher der Meinung, dass diese sich „ihr Geld selbst verdient haben“. Auch auf solchen Dingen und Beispielen, die leicht vermehrt werden können (s. zum Beispiel hier), beruht das wachsende Elend und die Not unserer Zeit:
Rudolf Steiner: “Man denkt so stark im Sinne der heutigen Gesellschaftsordnung, der heutigen Ordnung, dass man in weitesten Kreisen überhaupt nicht gewahr wird, wie der Lohn als solcher ja in Wirklichkeit eine soziale Unwahrheit ist. In Wirklichkeit besteht das Verhältnis so, dass der sogenannte Lohnarbeiter zusammenarbeitet mit dem Leiter der Unternehmung, und was stattfindet, ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung – die nur kaschiert wird durch allerlei täuschende Verhältnisse, durch Machtverhältnisse meistens und so weiter – über die Verteilung des Erlöses. Wenn man paradox sprechen wollte, so könnte man sagen: Lohn gibt es ja gar nicht, sondern Verteilung des Erlöses gibt es – heute schon, nur dass in der Regel derjenige heute, der der wirtschaftlich Schwache ist, sich bei der Teilung übers Ohr gehauen findet. Das ist das Ganze” (weswegen das nötig ist, was ich hier auf Umkreis-Online unter der Rubrik Teilungsvertrag beschreibe; Hervorhebung und Anmerkung IH).
Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die als Hartz-IV-Empfänger von den Jobcentern unter allen Umständen in irgendeine schlecht bezahlte Zwangsarbeit verfrachtet werden sollen, obwohl es – so wie die soziale und politische Struktur im Moment geordnet ist – immer weniger Arbeitsplätze gibt, durch die man ein menschenwürdiges Leben führen kann. So geht es eben, wenn der Staat meint, für die Wirtschaft Gesetze machen zu müssen (s. dazu auch hier auf Umkreis-Online zu Leiharbeit und Werkverträgen). Rudolf Steiner dazu:
Der bloße Rechtsstaat, wenn er Wirtschafter werden will, lähmt das Wirtschaftsleben; der Wirtschaftsorganismus, wenn er sich den Staat erobern will, tötet das System, das Leben des öffentlichen Rechtes (s. dazu hier auf Umkreis-Online zum Parlamentarismusbankrott sowie zum Ende des Rechtsstaates; Anmerkung IH).
Einen Ausweg aus dieser sich immer weiter verschärfenden sozialen Krise wird es nur dann geben, wenn eingesehen wird, dass Rechtsleben (Politik) und Wirtschaftsleben getrennt werden müssen, dass Arbeit keine Ware mehr sein darf, die auf einem „Markt“ – nach Marktgesetzen zu immer weiter sinkenden Preisen – verkauft werden muss. Und wenn eingesehen wird, dass man „sein Geld“ nicht „selber verdienen“ kann, und dass daher Arbeit und Einkommen entkoppelt werden müssen,
„dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.“
Einen Ausweg aus dieser sich immer weiter verschärfenden sozialen Krise wird es also nur dann geben, wenn das eingesehen wird, was Rudolf Steiner als die Dreigliederung des sozialen Organismus beschrieben hat.
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