von Rudolf Steiner
Anmerkung IH: Rudolf Steiner rückt in dieser Antwort den Diskussionsbeitrag eines anderen Teilnehmers zurecht, der mit der Dreigliederungsidee ganz offensichtlich nicht gut vertraut war und u.a. vorgebracht hatte:
Der Straßenkehrer braucht den Hausherrn, und der Hausherr braucht den Straßenkehrer; beide sind aufeinander angewiesen. Es sollte deshalb nicht mehr vorkommen, dass der Straßenkehrer den Hausherrn scheel ansieht und umgekehrt.
Rudolf Steiner entgegnete:
Sehen Sie, es passiert einem ja so manches im Leben, und man kann sich an so manches Erlebnis erinnern. So war ich zum Beispiel einmal mit einer sozialistischen Persönlichkeit zusammen, die ein guter Sozialist war, und ich sprach mit ihr über einen sehr, sehr hohen Regierungsbeamten. Ich hielt diesen sehr, sehr hohen Regierungsbeamten für total unfähig, für einen ganz unmöglichen Menschen. Und ich sagte, ich würde meinen, das beste für jenen sehr hohen Regierungsbeamten wäre eigentlich, wenn er von seinem Posten wegkäme und Straßenkehrer würde – das wäre der richtige Beruf für ihn. Sie hätten nur sehen sollen, welches Entsetzen die sozialistische Persönlichkeit erfasste bei der Zumutung, dass nun der ihr wohlbekannte Mann Straßenkehrer werden müsste. Ja, das war ja allerdings nur ein Gedanke, aber er scheint mir auf mehr Realität hinzuweisen, als der Gedanke – verzeihen Sie schon -, der soeben ausgesprochen wurde: der Hausherr solle den Straßenkehrer nicht scheel ansehen, und der Straßenkehrer den Hausherrn nicht! – Ja, damit lösen wir die soziale Frage wahrhaftig nicht, dass wir uns nicht scheel ansehen. Es handelt sich ja wirklich darum, dass in unserer heutigen sozialen Ordnung der Hausherr den Straßenkehrer braucht und der Straßenkehrer den Hausherrn, aber wenn sie bloß sich nicht scheel ansehen, wird die soziale Frage doch wahrscheinlich nicht gelöst werden. Und ob man sich auf irgend etwas was einbildet oder nichts einbildet, das sind schließlich Fragen, die wirklich mit den Sachlichkeiten und ernsten Realitäten des gegenwärtigen Lebens im Grunde genommen gar nichts zu tun haben. Es handelt sich wirklich nicht darum, dass wir heute den Menschen nur klarmachen: der Hausherr braucht den Straßenkehrer und der Straßenkehrer braucht den Hausherren. Da haben wir doch immer im Hintergrund so ein bisschen die Idee: der Straßenkehrer soll Straßenkehrer bleiben, und der Hausherr soll Hausherr bleiben, sie sollen sich nur nicht scheel ansehen, – was ja gewiss dem Hausherren leichter fallen wird als dem Straßenkehrer. Aber ich glaube, mit all diesen Dingen, die etwas stark nach Moralinsäure riechen, kommen wir heute nicht auf einen grünen Zweig, sondern heute handelt es sich nicht bloß darum, dass wir uns nicht scheel ansehen, sondern dass wir Hand anlegen, dass es anders werde, dass wir vor allen Dingen das erreichen, wiederum Verständnis [für einander] zu finden über die Klassen hinweg. Und dieses Verständnis wird zu einer ganzen Umgestaltung des Lebens führen, nicht nur zu einem Augenverdrehen von der Scheelheit zur Gradheit, sondern zu ganz anderen Dingen. Und gehen Sie durch, was intendiert ist in der Dreigliederungsidee, da werden Sie sehen, dass in der Tat herauskommt etwas, wonach sich die Menschheit heute sehnen muss, wenn sie etwas davon versteht, was sich weltgeschichtlich verwirklichen will. Und auf solche Dinge hat man heute hinzusehen, nicht auf etwas, was bloß moralisierend ist und was doch wiederum anknüpft an die alten Formen, die sich noch immer im gegenwärtigen sozialen Leben ausleben. Nein, wir müssen uns heute klar sein, dass wir ein neues Geistesleben brauchen, das aus dem Boden dieses Geisteslebens selber hervorgeht. Mag es im einzelnen bei der Durchführung der Dreigliederung noch so schlecht gemacht worden sein, es muss doch immer wieder und wiederum gesagt werden, dass diese Dreigliederung auf dem Boden steht: Nur einem Umdenken, nur einem Umwandeln der menschlichen Gedanken und Empfindungen bis ins tiefste Innere hinein werden wir eine Besserung verdanken und nichts anderem.
Diskussionsbeitrag Rudolf Steiners am 9. Juni 1920, enthalten in Nr. 337a der Rudolf Steiner Gesamtausgabe
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