Aus Nr. 83 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 307, (Hervorhebungen IH):
So können wir sagen, dass – gerade wenn man sich anregen lässt von dem, was hier gesagt worden ist – nicht etwa eine Teilung des sozialen Organismus, sondern die Gliederung desselben angestrebt wird, gerade damit die Einheit in der richtigen Weise zustande komme. Und man kann auch, wenn man mehr an die Oberfläche tritt, sehen, wie seit mehr als einem Jahrhundert die Menschheit Europas dahin tendiert, eine solche Gliederung zu suchen. Sie wird kommen, auch wenn die Menschen sie bewusst nicht wollen werden; denn unbewusst werden sie sich so im Wirtschaftlichen, Geistigen, Rechtlich-Staatlichen bewegen, dass diese Dreigliederung kommen wird. Sie ist etwas, was von der Menschheitsentwickelung selber gefordert wird.
Und so kann man auch darauf hinweisen, wie die drei Impulse, die gegenüber diesen drei verschiedenen Lebensgebieten in Betracht kommen, einmal wie drei bedeutungsvolle Ideale, wie drei Devisen für das soziale Leben, in die europäische Zivilisation eingetreten sind. Da hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Westen der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geltend gemacht. Wer würde sich nicht sagen, wenn er es mit der Entwickelung der neueren Zeit hält, dass in diese drei Devisen drei bedeutungsvolle menschliche Ideale gelegt sind? Aber auf der anderen Seite wiederum muss man sagen, dass es viele Menschen im 19. Jahrhundert gegeben hat, die sehr geistvoll widerlegt haben, dass irgendein einheitlicher sozialer Organismus, irgendein Staat möglich ist, wenn er diese drei Ideale miteinander verwirklichen soll. Mehr als ein geistvolles Werk ist geschrieben worden, in dem nachgewiesen ist, wie nicht gleichzeitig im Staat völlig vereint sein können Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und man kann nicht sagen, dass das, was da in geistvoller Weise geschrieben worden ist, nicht recht sehr bedenklich machen müsse. Und so ist man da wiederum einmal in einen Lebenswiderspruch hineingestellt.
Allein das Leben ist nicht dazu da, keine Widersprüche zu treiben, es ist überall widerspruchsvoll. Und es besteht darin, dass es die aufgeworfenen Widersprüche immer wieder überwindet. Gerade im Aufwerfen und Überwinden von Widersprüchen besteht das Leben. So ist es außerordentlich berechtigt, dass die drei großen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgestellt worden sind. Weil man aber im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeiten herein fortwährend geglaubt hat, dass alles ganz zentralistisch geordnet werden müsse, deshalb kam man auch in dieser Beziehung in die Lebensirrtümer hinein. Und deshalb konnte man nicht durchschauen, wie es keine Bedeutung hat, sich herumzuschlagen über die Art und Weise, wie die Produktionsmittel verwandt werden, wie der Kapitalismus entwickelt werden soll und so weiter, sondern dass es sich darum handelt, die Menschen in Verhältnisse zu bringen, in denen sie ihre sozialen Angelegenheiten aus den ureigensten Trieben ihres Wesens ordnen können. Da müssen wir sagen: Wir müssen lebensvoll erfassen, wie wirken muss die Freiheit im Geistesleben, die freie produktive Entfaltung der Individualität; wie wirken muss die Gleichheit im rechtlich-staatlichen Leben, wo jeder das, was jedem Menschen zukommt, mit jedem anderen Menschen im demokratischen Sinn entwickeln soll; wie wirken muss die Brüderlichkeit in den konkreten Verbänden, die das umfassen, was wir die Assoziationen nennen. Nur wer so hinschaut auf das Leben, der sieht es richtig.
Dann aber wird man einsehen: Weil man in abstrakter Weise geglaubt hat, in dem bloßen Einheitsstaat, in den sich das Wirtschaftliche hineingeschoben hat, alle drei Ideale in gleicher Form unterzubringen, darum ist es zu dem Lebenswiderspruch gekommen. Die drei Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird man einmal lebensvoll verstehen, wenn man einsieht, wie Freiheit im Geistesleben herrschen muss, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Und zwar nicht in sentimentaler Weise, sondern so, dass es zu sozialen Gestaltungen führt, innerhalb welcher die Menschen so leben können, dass sie ihre Menschenwürde und ihren Menschenwert erleben. Begreift man, dass der einheitliche Organismus nur dadurch entstehen kann, dass aus der Freiheit heraus der Geist sich in produktiver Art entwickelt, dass die Gleichheit wirken muss im Staats- und Rechtswesen und die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, in den Assoziationen, dann wird man hinwegkommen über die schlimmsten sozialen Schäden der Gegenwart.
Denn nur das, was aus dem Menschen frei als Individualität quellen kann, gibt ihm ein geistiges Leben, das in der Wahrheit wurzelt; diese Wahrheit kann nur zutage treten, wenn sie aus der Menschenbrust unmittelbar herausfließt. Der demokratische Sinn wird nicht eher ruhen, bis er auf staatlich-rechtlichem Gebiet die Gleichheit verwirklicht hat. Wir können das aus Vernunft tun, sonst setzen wir uns Revolutionen aus. Und auf wirtschaftlichem Gebiete muss die Brüderlichkeit leben in den Assoziationen.
Dann wird das Recht, das unter den Menschen gegründet wird aus einem Verhältnis heraus, wo der Gleiche dem Gleichen gegenübersteht, lebendiges Recht sein. Alles andere Recht, das gewissermaßen über dem Menschen schwebt, das wird zur Konvention. Wirkliches Recht muss hervorgehen aus dem Zusammensein der Menschen, sonst wird es zur Konvention.
Und wirkliche Brüderlichkeit kann nur eine Lebenspraxis begründen, wenn sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen selbst heraus, in Assoziationen, begründet wird; sonst begründet das menschliche Zusammenwirken in den Verbänden nicht Lebenspraxis, sondern Lebensroutine, wie wir das fast allgemein in der Gegenwart haben.
Erst wenn man fragen gelernt hat: Was haben sich für soziale chaotische Zustände ergeben unter dem Einfluß der Phrase statt der Wahrheit auf geistigem Gebiet, der Konvention statt des Rechts auf staatlich-rechtlichem Gebiet, der Lebensroutine statt der Lebenspraxis auf wirtschaftlichem Gebiet, dann wird man die Frage in der richtigen Weise stellen. Und dann wird man sich auf einen Weg begeben, der eigentlich erst die soziale Frage in richtiger Weise anschneiden kann.
Man wird vielleicht etwas schockiert sein, dass hier die soziale Frage nicht so angegriffen sein soll, wie manche glauben, daß sie angegriffen werden müsste. Aber hier soll nur aus dem heraus gesprochen werden, was der Wirklichkeit selbst gerade mit Hilfe der Geisteswissenschaft, die überall auf Wirklichkeit geht, abgewonnen werden kann. Und da ergibt sich, dass die Kernfragen des sozialen Lebens heute die sind:
Wie kommen wir durch eine richtige Gliederung des sozialen Organismus von der vielfach herrschenden Phrase, die aus der menschlichen Individualität dadurch hervorgeht, dass sie sich in ihrem geistigen Schaffen einem anderen beugen muss, zur Wahrheit, von der Konvention zum Rechte und aus der Lebensroutine heraus zur wirklichen Praxis?
Erst wenn man einsehen wird, dass der dreigegliederte soziale Organismus notwendig ist, um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu schaffen, dann wird man die soziale Frage in der richtigen Weise gestalten. Dann wird man auch den gegenwärtigen Zeitpunkt richtig an das 18. Jahrhundert anknüpfen. Und dann kann Mitteleuropa die Möglichkeit finden, zu dem, was Westeuropa gesagt hat, indem es gefordert hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aus seinem Geistesleben heraus zu sagen: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben.
Dann wird für die soziale Frage manches getan sein, und man wird sich eine Idee darüber bilden können, wie die drei Gebiete im sozialen Organismus aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zusammenwirken können zu einer Gesundung aus unseren heutigen chaotischen geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen heraus.
Auf diesen Artikel wurde zum ersten Mal von diesen Beiträgen aus verwiesen:
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und
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