Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft ist keine Sonntagnachmittagspredigt 

 

 

Aus Nr. 186 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 37:

Denn unter den Gründen, welche die heutige katastrophale Lage der Menschheit herbeigeführt haben, ist ja einer der nicht geringsten der, dass die Weltanschauungen der Menschen – sei es, dass sie im Religiösen, sei es, dass sie im Wissenschaftlichen oder im Ästhetischen wurzeln – alle im Laufe der Zeiten allmählich den Zusammenhang mit dem Leben verloren haben. Es war gewissermaßen ein Trieb, man möchte sagen ein perverser Trieb vorhanden, welcher trennen wollte das sogenannte alltägliche praktische Leben in seinem weitesten Umfange von dem, was man zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf religiösen, auf Weltanschauungsgebieten suchte. Bedenken Sie nur einmal, wie das Leben in den letzten Jahrhunderten allmählich die Gestalt angenommen hat, dass die Menschen im Äußerlichen sich gehen ließen, sozusagen «praktische» Menschen waren, das Leben nach «praktischen» Grundsätzen einrichteten, und dann jeden Tag etwa eine halbe Stunde, mehr oder weniger, oder gar nicht, oder den Sonntag dazu verwendeten, um die Bedürfnisse des Herzens, der Seele zu befriedigen, die dahin gingen, mit dem die Welt durchdringenden Göttlich-Geistigen einen Zusammenhang zu finden. 

Das wird, wenn anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft von den Gemütern der Menschen Besitz ergreifen kann, durchaus anders werden. Das wird so werden, dass aus dieser Weltanschauung Gedanken quellen, welche anwendbar sind im unmittelbarsten Leben, welche uns in die Lage versetzen werden, das Leben auf allen Gebieten einsichtsvoll zu beurteilen. Das Prinzip der Sonntagnachmittagspredigt soll ja durchaus nicht das unserer anthroposophisch orientierten Weltanschauung sein, sondern das ganze Leben an allen Wochentagen und auch am Sonntagvormittag soll durchdrungen sein von dem, was anthroposophische Weltauffassung dem Menschen geben kann. Weil es nicht so war bis in unsere Tage herein, ist ja die Welt nach und nach in ein Chaos hineingesegelt. Man hat außer acht gelassen, den Blick hinzuwenden auf das, was in der unmittelbaren Umgebung wirklich geschieht, und ist heute überrascht, dass die Folgen dieses Übersehens sich deutlich zeigen. Man wird in der Zukunft noch mehr überrascht sein, weil sich diese Folgen noch deutlicher zeigen werden. 

Aus Nr. 185 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 88:

Ja, das war es, was von allem Anfange an unsere geisteswissenschaftliche Bewegung durchpulste: nicht sollte sie nur irgendeine sektiererische Bewegung sein, sondern angestrebt wurde, dass sie wirklich mit dem Impulse unserer Zeit, mit all dem, was der Menschheit in unserer Zeit nach allen Richtungen hin wichtig und wesentlich ist, rechnet. Das wurde immer mehr angestrebt. Das ist allerdings dasjenige, was man heute am schwersten den Menschen zum Verständnis bringen kann, aus dem einfachen Grunde, weil ja doch immer wieder und wiederum – selbstverständlich nicht bei allen, sondern bei vielen – die Gesinnung durchschlägt, dass sie auch in dem, was sie Anthroposophie nennen, doch nichts anderes haben wollen als so ein bisschen bessere Sonntagnachmittagspredigt für dasjenige, was man so zu seiner privat-persönlichen Erbauung braucht, was man aber fernhält von all den ernsthaften Angelegenheiten, die man abmacht im Parlament, im Bundesrat oder in der oder jener Körperschaft, oder auch nur am Biertisch. Dass wirklich alles Leben durchdrungen werden muss mit Ideen, die nur aus dem Geisteswissenschaftlichen heraus geholt werden können, das ist es, was eben eingesehen werden muss. 

Der Interesselosigkeit dieser Schichte der Bevölkerung stand und steht auch noch heute das rege Interesse des Proletariats entgegen. Dieses Proletariat hat natürlich, einfach durch die geschichtliche Entwickelung der neueren Zeit, nicht die Möglichkeit, über das bloß Sinnenfällige hinauszudringen. So kennt es nur sinnenfällige Impulse und will nur sinnenfällige Impulse in die Menschheitsentwickelung einführen. Aber während dasjenige, was die bürgerliche Bevölkerung, wenn wir so sagen dürfen, oftmals ihre Weltanschauung nennt, nur Worte, Phrasen oftmals sind – meistens sind, weil sie eigentlich nicht gehegt sind vom unmittelbaren Leben der Gegenwart, sondern weil sie heraufgebracht, überkommen sind aus älteren Zeiten, während die bürgerliche Bevölkerung in der Phrase lebt, lebt das Proletariat, weil es in einem wirklich neuen wirtschaftlichen Impuls drinnensteht, in Realitäten, aber nur in Realitäten sinnenfälliger Natur.  

Aus Nr. 189 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 92:

Und Geisteswissenschaft soll in diesem Sinne, wie ich oft betont habe, ernst und tief genommen werden, nicht als etwas, das man nur so wie eine Sonntagnachmittagspredigt hinnimmt; denn das ist bürgerlich. Bürgerlich ist es, neben seinem Wirtschaftsleben, das man zur Not nur für den kleinen Kreis selbst besorgt, wenigstens selbst zu besorgen glaubt, und neben dem Staatsleben, für das man den Staat sorgen lässt, auch so ein bisschen Geistesleben zu entwickeln, je nachdem man sich für aufgeklärt hält, indem man zum Pfarrer geht, oder indem man sich der Theosophie widmet oder dergleichen. Es ist gut bürgerlich. Und eminent bürgerlich hat gerade die theosophische Bewegung das Geistesleben in der neueren Zeit hingestellt. Man kann sich nichts Bürgerlicheres denken als diese moderne theosophische Bewegung. Sie ist so recht aus dem Bedürfnisse des Bürgertums als eine sektiererische Geistesbewegung hervorgewachsen. Das war der Kampf, seit wir versucht haben, aus dieser theosophischen Bewegung etwas herauszuarbeiten, was durchdrungen sein sollte vom modernen Menschheitsbewusstsein und als Bewegung in die Menschheit hineingestellt werden sollte. Immer war der Widerstand des bürgerlichen sektiererischen Elementes da, das tief verankert ist im Oberflächenteil der menschlichen Seele. Aber man muss darüber hinauskommen. Das anthroposophische Streben muss als ein solches erfasst werden, welches von der Zeit gefordert wird, welches uns nicht kleine, sondern große Interessen geben soll, welches uns nicht bloß dazu anleitet, uns in kleinen Zirkeln zusammenzusetzen und Zyklen zu lesen. Es ist ja gut, wenn man Zyklen liest; ich bitte Sie, durchaus jetzt nicht daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass nun keine Zyklen in der Zukunft gelesen werden sollen; aber man soll dabei nicht stehenbleiben. Man soll das, was in den Zyklen steht, wirklich ins Menschenleben einführen – aber nicht so, wie sich manche es vorstellen, sondern so, dass man zunächst das Verhältnis zum Bewusstsein der neueren Zeit sucht. Nicht darauf kommt es an, wenn ich so etwas sage, dass jetzt daraus das Bewusstsein erwächst: also wir sollen nicht sektiererisch Zyklen lesen, lesen wir also keine mehr; sondern darauf kommt es an, dass wir erst recht Zyklen lesen, aber dann auch sehen, dass das, was in den Zyklen enthalten ist, auch wirklich in unsere Lebenskraft übergeht. Dann wird das die beste soziale Nahrung für die in der Gegenwart strebenden Seelen sein.  

Aus Nr. 185 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 177:

Und Geisteswissenschaft, die wird schon derjenige finden, der auf dem Boden des Goetheanismus steht. Das ist etwas, was man heute mit flammender Schrift in die Herzen der Menschen hineingießen möchte. Es ist dies von mir versucht worden in der verschiedensten Weise seit Jahrzehnten. Aber vieles von dem, was aus dem Herzblut heraus geredet worden ist, um der Zeit zu dienen, ist von der Zeit als erbauliche Sonntagnachmittagspredigt genommen worden. Denn im Grunde genommen haben die Leute, die so gern den Kulturschlaf schlafen, auch nichts anderes gewollt wie Sonntagnachmittagspredigten, nicht wahr? Das wäre der Menschheit so notwendig, dass man das konkret für die Zeit Erforderliche, Notwendige sucht! Und das müsste man vor allen Dingen in seine Einsicht hereinzubringen suchen, denn auf die Einsicht kommt es heute vor allen Dingen an. Es ist doch wiederum trivial, wenn man heute in dieser ungeheueren Verwirrung, die bald noch größer sein wird, fragt: Was soll der einzelne tun? – Vor allen Dingen nötig ist es, sich um Einsicht zu bekümmern, damit die Infallibilität namentlich auf dem Gebiete, das ich gerade heute gemeint habe, in ein richtiges Fahrwasser gebracht wird.     

Und dieses Büchelchen «Goethes Weltanschauung» ist vorzugsweise dazu geschrieben, um zu zeigen, dass es zwei Strömungen in der Gegenwart auf dem Gebiete alles Erkennens gibt: eine in der Dekadenz lebende Strömung, die alle anbeten, und eine, die die fruchtbarsten Keime für die Zukunft enthält, und die alle meiden. Mancherlei schlechte Erfahrungen haben die Menschen gemacht in den letzten Jahrzehnten, gewiss viele durch eigene Schuld. Aber darauf sollten die Menschen kommen, dass sie mit denen, auf die sie am stolzesten sind, ihre Schulmeister, doch im Grunde genommen die schlechtesten Erfahrungen schon gemacht haben und noch viel schlechtere machen werden. Zunächst scheint aber die Menschheit nötig zu haben, erst durch die Erfahrungen durchzugehen, die sie mit dem Weltenschulmeister zu machen hat, denn die Welt hat es dazu gebracht, nun endlich einen Schulmeister als Weltenordner hinzustellen! Zu denjenigen Schwätzern, die überall aus universitärem Zeug heraus die Welt beschwätzt haben, tritt nun auch noch derjenige, der die ganze Welt ordnen soll aus universitärem Geschwätze heraus.
Nicht um zum Pessimismus, sondern um zu denjenigen Impulsen anzuregen, die den Goetheanismus dem Wilsonismus gegenüberstellen, sind diese Worte gesprochen. Auch nicht aus irgend etwas Nationalem heraus, denn Goethe ist selber wahrhaftig kein nationaler Geist, sondern ein recht sehr internationaler. Die Welt sollte davor behütet werden, sich den Schaden anzutun, an die Stelle des Goetheanismus den Wilsonismus zu setzen.  

Hat Ihnen dieser Artikel etwas gegeben? Dann geben Sie doch etwas zurück! – Unterstützen Sie meine Arbeit im Umkreis-Institut durch eine

Spende!

Das geht sehr einfach über eine Überweisung oder über PayPal.

Sollte Ihnen aber Ihre Suchmaschine diesen Artikel nur zufällig auf den Monitor geworfen haben, Sie das alles sowieso nur für (elektronisches) Papier beziehungsweise nur für Worte – also für Pille-Palle – halten, dann gibt es 

hier 

einen angenehmen und lustigen Ausgang für Sie.

Falls Ihnen dieser Artikel jedoch unverständlich, unangebracht, spinnig oder sogar „esoterisch“ vorkommt, gibt es vorerst wohl nur eines: 

Don‘t touch that!