Rudolf Steiner: Die sinnliche Wirklichkeit ist nur die äußere Schale der Wirklichkeit

 

 

von Rudolf Steiner 

 

Aus Nr. 174b (S. 251ff) der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (Hervorhebung IH):

Jetzt ist das Denken ganz in den physischen Leib hineingezogen, ist ganz Gehirndenken geworden, und da nimmt es denn den abstrakten Charakter an, auf den unsere Zeit so stolz ist. Das Denken, das ganz abstrakt wird, das ist das Denken, das wirklich an die Materie, an die Materie des Gehirns gebunden ist. Und dieses Denken, das zeigt sich gerade in den epochemachendsten Impulsen, die wiederum vertieft werden müssen, sonst wird das Denken immer materialistischer und materialistischer. Und indem das Denken immer materialistischer wird, muss auch das Leben immer materialistischer werden. Grundlegende Ideen — das ist das Charakteristische unserer jetzigen fünften Epoche, die als Impulse wirken sollen, sie wirken nur als abstrakte Ideen. 

Und es gab eine Zeit, in der die Abstraktion als Lebensprinzip an ihrem Höhepunkt angelangt war. Alles ist notwendig – verstehen Sie mich recht -, ich will nicht etwa in Grund und Boden kritisieren, ich spreche nicht vom Standpunkte der Sympathie und Antipathie, ich charakterisiere, wie man wissenschaftlich charakterisiert. Ich will also nicht tadeln – niemand soll das glauben —, dass es eine Epoche gegeben hat, in der die abstrakten Weltideen ihren höchsten Triumph gefeiert haben. Diese Epoche war damals, als man mit äußerster Abstraktion drei Ideen aussprach: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Mit der äußersten Abstraktion sprach man sie aus. Nicht aus einem konservativen oder reaktionären Standpunkte ist das gesagt, sondern um die Menschheitsentwickelung zu charakterisieren. Alles ruft nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts, nicht aus der Seele, sondern aus dem denkerischen Gehirn heraus. Und das hat sich im 19. Jahrhundert so fortgebildet, dass wir es noch heute überall wie eine Gewohnheit nachklingen fühlen. Die Menschen haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts furchtbar an die Abstraktion des Denkens gewöhnt und sind zufrieden in der Abstraktheit des Denkens, weil sie sich dabei so gescheit vorkommen. Sie glauben, im Denken haben sie die Wahrheit und empfinden kein Bedürfnis, in die Wirklichkeit mit ihrem Denken unterzutauchen. Das muss wieder gelernt werden, in die Wirklichkeit unterzutauchen; sonst bleibt es beim Deklamieren von abstrakten Ideen, die keinen Lebenswert haben. 

Das ist die große Krankheit unserer Zeit, das Deklamieren von abstrakten Ideen, die keinen Lebenswert haben. Wenn heute gesagt wird, es müsse jetzt eine Zeit kommen, in der dem Tüchtigen freie Bahn geboten wird in der Welt, wo der Tüchtige an den rechten Platz gestellt wird, nun, was kann es denn Schöneres geben als diese Idee! Ist das nicht ein wunderbares Ideal: Freie Bahn dem Tüchtigen! – Man glaubt zuweilen aus der heutigen materialistischen Zeit heraus, indem man ein solches Ideal ausspricht, die ganze Zukunft in seiner Brust zu tragen. Was hilft aber ein solches abstraktes Ideal, wenn es dabei bleibt, dass man seinen Schwiegersohn oder seinen Neffen für den Tüchtigsten hält? Es kommt gar nicht darauf an, dass man ein abstraktes Ideal anerkennt, ausspricht und deklamiert, sondern darauf, dass man mit seiner Seele in die Wirklichkeit einzutauchen vermag, und die Wirklichkeit in ihrer Wesenheit zu durchschauen, zu erkennen, zu durchdringen, zu erleben, zu bearbeiten versteht. Schöne Ideen aussprechen und sich wohltun im Aussprechen schöner Ideen wird sich immer mehr und mehr als schädlich erweisen. Liebe zur Wirklichkeit, Erkenntnis, Anpassen an die Wirklichkeit, das ist dasjenige, was in unsere Seele einziehen muss. Das kann aber nur geschehen, wenn die Menschen wiederum lernen, die ganze Wirklichkeit – denn die sinnliche Wirklichkeit ist nur die äußere Schale der Wirklichkeit — zu erkennen. Wenn derjenige, der einen Magneten in Hufeisenform sieht, sagt: Damit beschlägt man am besten den Huf eines Pferdes -, hat er da die ganze Wirklichkeit? Nein, erst wenn er erkennt, dass da drinnen in dem Eisen Magnetismus ist, erst dann hat er die ganze Wirklichkeit. Aber wie der handelt, der mit einem Magneten nichts anderes zu tun weiß, als ein Pferd zu beschlagen, so ist auch der, der eine äußere Naturwissenschaft oder Staatswissenschaft begründen will unter der Voraussetzung, dass alles nur sichtbare Welt ist und mit Vorstellungen begriffen werden kann, die aus der sichtbaren Welt entlehnt sind. Das gehört eben zur äußersten Abstraktion, zur Schädlichkeit der abstrakten Ideale. Und man erkennt diese Schädlichkeit nicht, weil die Ideale wahr sind, weil sie auch gut sind, aber sie sind wirkungslos. Sie dienen nur dem menschlichen Erkenntnisegoismus, der Wollust dabei empfindet, in solchen Idealen zu leben. Aber damit wird keine Welt regiert. Damit wird höchstens eine Welt regiert, wie sie geworden ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Man muss schon solchen Empfindungen sich hingeben, wenn man unsere Zeit tiefer verstehen will. Lebendig muss in dem Menschen werden das seelische Leben, das so allmählich, wie ich das beschrieben habe, herausgegangen ist aus unserer Umwelt, aus unserer angeschauten Umwelt. Die Ideen müssen wieder konkret, wieder lebendig werden. Brüderlichkeit ist eine schone Idee, als Abstraktion ausgesprochen bedeutet sie gar nichts. Weiß man erstens, dass das menschliche Seelenwesen im Leibe, durch den Leib, auf dem physischen Plan hier lebt, also leiblich-seelisch, seelisch-leiblich ist, weiß man zweitens, dass der Mensch nicht nur seelisch-leiblich, sondern wirklich Seele ist, weiß man drittens, dass die Seele geisterfüllt ist, kennt man also die Seele als dreigliederig und den Menschen als dreigliederig, kennt man den Menschen in seiner Zusammensetzung aus Leib, Seele und Geist: dann hat man den Anfang damit gemacht, die abstrakten drei Ideen von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit konkret werden zu lassen. Vom Menschen im allgemeinen, von diesem abstrakten Menschen zu sagen, er solle in Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit leben, ist gar nichts als ein Wortschwall. Notwendig ist, eine lebendige Erkenntnis davon zu erwerben, dass der Mensch, insofern er im Leibe in der physischen Welt lebt, eine soziale Ordnung braucht, die auf Grundlage der wirklichen Brüderlichkeit begründet ist, dass aber Brüderlichkeit nur verstanden werden kann, wenn man die Menschen als Leib betrachtet. Das ist der Beginn der richtigen Idee von der Brüderlichkeit. Brüderlichkeit hat nur einen Sinn, wenn man weiß, dass der Mensch eine Dreiheit ist und die Brüderlichkeit anwendbar ist auf das Leibliche. Freiheit: Dazu muss man wissen, dass der Mensch eine Seele hat, denn die Leiber können nie frei werden. Es gibt keine Einrichtung, wodurch die Leiber frei werden; die Entwickelung der Menschheit kann nur so sein, dass die Seelen frei werden. Freiheit, als allgemeine Menschheitsidee ausgesprochen, ist eine Abstraktion. Freie Seelen zu den brüderlich lebenden Leibern ist eine konkrete Idee. Gleich sind die Menschen im Geiste. Ein altes Volkswort war sich dessen sogar bewusst: Nach dem Tode werden alle gleich. – Man sah dabei auf den Geist. Indem die Menschen als Geister leben, sind sie hier für die Erde gleich, aber von Gleichheit zu sprechen hat nur einen Sinn, wenn man von diesem dritten Gliede des Menschen, vom Geiste spricht. Lebendig muss es werden, meine lieben Freunde, so dass man sagt: Dasjenige, was hier auf der Erde in irgendeiner Ordnung herumwandelt, lebt in Leib, Seele und Geist. Die Entwickelung muss so fortschreiten, dass die Leiber in Brüderlichkeit, die Seelen in Freiheit, die Geister in Gleichheit leben. Es reicht heute nicht die Zeit, die Sache weiter auszuführen, aber Sie werden heute schon den ganz erheblichen Unterschied merken zwischen abstrakten Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit und den von Erkenntnis durchdrungenen konkreten Ideen, die dann auf das Richtige angewendet sind. 

Aber worauf beruht denn das ganze, dass man so abstrakt geworden ist? Nun, es ist ja der Menschheit dasjenige ganz verlorengegangen, was verhältnismäßig spät noch eine Mysterienwahrheit war: dass der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist. Bei den Griechen war es noch allgemein, den Menschen als Leib, Seele und Geist anzusehen. Bei den ersten Kirchenvätern war es noch eine Selbstverständlichkeit. Dasjenige, was im Niedergang der menschlichen Entwickelung lag, die einen Aufstieg aus dem Christus-Prinzip wiederum braucht, das wurde im Jahre 869 durch das Konzil zu Konstantinopel dogmatisch festgelegt, indem der Geist abgeschafft worden ist. Verzeihen Sie, dass ich das so grotesk ausdrücke. Es ist ja nur äußerlich dasjenige konstatiert worden, was im Menschheitsbewusstsein auftrat durch die Verhältnisse, die ich geschildert habe. Seit jener Zeit durfte man nicht mehr in der Theologie lehren: Der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist -, sondern man musste lehren: Der Mensch besteht nur aus Leib und Seele -, wie es heute die Philosophieprofessoren noch lehren. Und wenn so ein guter Wundt oder ein anderer Philosophieprofessor unseres heutigen Zeitalters eigentlich noch keine Ahnung davon hat, dass der Mensch eine Dreiheit ist, sondern immerfort redet von Leib und Seele, so weiß er gar nicht, dass er nur die Anordnungen des Konzils von Konstantinopel vom Jahre 869 befolgt. Er weiß gar nicht, dass seine Lehre nur eine Nachbildung dieses Konzilsbeschlusses ist. Ja, diese «voraussetzungslose» Wissenschaft, die hat manchmal, wenn man genauer ihre Entwickelungsgeschichte kennt, ganz merkwürdige Voraussetzungen. Die voraussetzungslose Wissenschaft unseres jetzigen Zeitalters in der Philosophie ist nämlich gar nicht zu denken ohne das Konzil zu Konstantinopel, nur wissen es die Herren nicht. 

Dasjenige, was da verdunkelt worden ist, dass der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, das muss durch Geisteswissenschaft wieder gewonnen werden. Daher musste mit vollem Bewusstsein gleich das erste, was ich versuchte symptomatisch geltend zu machen gerade in unserer mitteleuropäisch, anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, struktural durchdrungen sein, in dem Buche «Theosophie» nämlich, von der Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist. Darauf ist das ganze Buch aufgebaut. Das musste radikal immer wieder und wiederum vor die Menschheit hingestellt werden; damit hatte sie aus der Entwickelung heraus den dreigliederigen Menschen. 

Sie sehen, wie bis ins einzelne herein, wenn man auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, sich alles rechtfertigt, wie aber auch Geisteswissenschaft dazu geeignet ist, uns solche Vorstellungen, solche Gefühls- und Willensimpulse zu geben, die uns zu wirklichen Mitarbeitern machen können im rechten Fortgang der neueren Menschheitsentwickelung. Und ich möchte immer, dass ich eine Empfindung davon hervorrufen könnte, dass Geisteswissenschaft nicht eine Theorie, nicht eine Lehre bleiben darf, dass sie nicht etwas bleiben darf, was man so als eine Wissenschaft pflegt, sondern was wirklich lebendiges, inneres Seelenleben werden kann. Dieses erscheint mir viel wichtiger als die bloße Bereicherung mit Begriffen, die ja selbstverständlich auch notwendig ist, denn wenn etwas belebt werden soll, so muss es zuerst begriffen sein. Wir müssen die Begriffe in uns haben, aber die Begriffe dürfen nicht tot bleiben, sondern sie müssen lebendig werden. Geisteswissenschaft wirkt dann schon von selber so, dass wenn sie real erfasst wird, sie den ganzen Menschen anregt. Aber dann ist es auch notwendig, dass der ganze Mensch versucht, sie empfindend und willentlich zu verstehen. Wenn aber der ganze Mensch diese Geisteswissenschaft empfindend und willentlich versteht, dann kann er entsprechend in ihr leben. Da darf ihm aber die Liebe niemals ausgehen zu der wirklichen Erkenntnis und zu der sich fortentwickelnden Menschheit. 

 

 

 

 

 

 

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