Sich mit aller inneren Gewalt der Denktätigkeit hingeben  

 

von Ingo Hagel    

 

Mit Blick auf eine der Meditation angemessene Denktätigkeit führte Rudolf Steiner folgendes aus (GA 84 S. 92):  

Solche Übungen verlangen vom Menschen, dass er gewissermaßen sich mit seinem ganzen Wesen in die Denktätigkeit hineinversetzt, dass er sich hingibt mit aller inneren Gewalt dem Denken, und dass ihm bei diesem Denken dann gleichgültig ist, was die äußeren Sinne ihm überliefern, dass er also ganz bewusst nur in der Denktätigkeit lebt.  

 

Aus dem weiteren Verlauf dieses Vortrages geht allerdings hervor, 

dass diese Denktätigkeit nicht nur in der Meditation angestrebt werden muss, sondern überhaupt bei jedem geisteswissenschaftlichen Studium – also zum Beispiel auch beim Studium der „Philosophie der Freiheit“, bei der es sogar noch leichter sein soll, sich in diese Denktätigkeit einzuleben, als bei der Meditation (GA 84, S. 98): 

Und es ist wirklich wahr: Es wäre gar nicht so schwierig zu erreichen, wenn die Menschen nur in der gegenwärtigen Zeit die Neigung hätten, sich, wie ich es beschrieben habe, in die Denktätigkeit selbst einzuleben. 

Man kommt ja am leichtesten dazu, sich in diese Denktätigkeit selbst einzuleben, wenn man das, was in meiner «Philosophie der Freiheit» enthalten ist, richtig durchlebt. Dort ist zum Beispiel hingewiesen auf dieses Denkerleben für die ethische, für die moralische Welt. Qualitativ ist es dasselbe, was ich da beschrieben habe. Und wenn man in der richtigen Weise die «Philosophie der Freiheit» studiert, so kommt man darauf, was eigentlich dieses Äthererleben, dieses Bildekräfteerleben ist. 

Das richtige Erleben der Denktätigkeit – auch der Denktätigkeit der „Philosophie der Freiheit“ – ist also letztlich „Äthererleben … Bildekräfteerleben„.  

 

Aber was nützt es, sich „mit aller inneren Gewalt dem Denken“ hinzugeben, 

wenn man doch bei dem Fehler verharrt, im alten Kopfdenken hängenzubleiben? Dann wird diese „innere Gewalt“ nur immer weiter den Leib ruinieren. – 

Siehe dazu auch hier. – 

Natürlich muss man von diesem alten Kopfdenken und vom Denken mit dem physischen Leib ausgehen. Darüber ist hier auf Umkreis-Online in den verschiedenen Artikeln – besonders zur „Philosophie der Freiheit“ – immer wieder gesprochen worden: Wir haben erst einmal nichts anderes als dieses Kopfdenken. Mit ihm glauben wir, wie mit der Brechstange auch an solche geistigen Angelegenheiten herangehen zu können, die damit überhaupt nichts zu tun haben.  

 

Wenn es gut geht, sollte man also doch ziemlich schnell 

den Punkt begreifen können, dass es bei dieser Meditation – 

und im weiteren selbstverständlich auch bei der Erarbeitung geisteswissenschaftlicher Inhalte – 

doch nur um eine Umwendung, Umwandlung dieses Denkens in ein ganz neues, und nun erst in ein wirkliches Denken gehen kann. Rudolf Steiner hat das damals in den Vorträgen – 

besonders für die Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft – 

immer vorausgesetzt, dass die Menschen diese Umwendung des Denkens verstehen und schaffen sollten. 

 

Ich habe allerdings immer wieder in meinem Leben – 

also rund 100 Jahre nach diesen von Rudolf Steiner gesprochenen Worten – 

erlebt, dass die Menschen überhaupt nicht mehr verstehen, dass es neben diesem Kopfdenken – 

immer schön an der Sinneswelt entlang – was natürlich kein Denken ist, wie oft hier auf Umkreis-Online beschrieben, aber damit muss man eben große Teile seines persönlichen und beruflichen Lebens führen, bis sich allmählich der heilsame Ersatz ergibt – 

noch etwas anderes geben soll. Zudem sind die inneren Erlebniswege zu einem solchen Verständnis aus diesen alten Denkgewohnheiten heraus ziemlich zubetoniert.  

 

Was will man also den Leuten heute von Meditation 

oder von einem Erleben der Denktätigkeit erzählen, das heißt von einem sinnlichkeitsfreien Denken – 

… und dass ihm bei diesem Denken dann gleichgültig ist, was die äußeren Sinne ihm überliefern … –

wenn sie noch nicht einmal ordnungsgemäß mit ihrem physischen Leib denken können und die Verhältnisse der Welt und ihres Lebens erfassen und einigermaßen einordnen können? –  

So richtig einordnen und verstehen kann man die Verhältnisse der Welt ja wirklich nur auf eine wirkliche geistige Weise. –     

 

Aber es hilft heute alles nichts. 

Wenn man aus diesem so Alles umfassenden heutigen geistigen, kulturellen und sozialen Desaster herauskommen will, muss man –

wenn nicht irgendein Großereignis geschieht, das den Leuten die Betonplatte von Seele und Geist wegreißt – 

innerlich geständig sein und einfach bei Null anfangen. 

 

Diesbezüglich kenne ich eigentlich nur diese eine nachfolgende Äußerung von Rudolf Steiner, 

die das anspricht, und die den Menschen damals auf eine zarte Weise beizubringen versuchte, dass es eben nicht mehr sehr viel Verständnisgrundlagen für eine energische Vertiefung –

sowohl in der Meditation als auch mit Blick auf die Schriften der Geisteswissenschaft –

mehr gibt – und dass die Menschen „Geduld“ haben sollten (GA 188 S. 69):     

Wenn Sie sich vertiefen in das, was Ihnen die Geisteswissenschaft gibt, dann können Sie, wenn Sie sich nur wirklich energisch vertiefen – haben Sie Geduld, das kann im heutigen Zeitalter nur in Andeutungen noch vorhanden sein – …

Diese Fähigkeit der energischen Vertiefung dürfte heute, 100 Jahre nach diesen Worten, noch nicht einmal mehr 

nur in Andeutungen noch vorhanden sein, 

sondern sie dürfte mittlerweile völlig verlorengegangen sein. Da gibt es dann nur Eines: bei Null anfangen.

Auf der anderen Seite sind wir 100 Jahre nach diesen Worten in einer Zeit angelangt, 

in der die geistigen Reserven des Menschen, von denen er noch so einigermaßen zehren konnte vor 100 und mehr Jahren, völlig aufgebraucht sind. Auch wenn man bei Null anfangen muss mit dieser geistigen energischen Vertiefung, und eigentlich gar nicht mehr kann, so ist es doch so, dass die Menschen heute umso mehr dieser energischen Vertiefung bedürfen, dass sie umso mehr heute der Anthroposophie bedürfen, der Beschäftigung mit einer geistigen Weltanschauung. Auch ist es heute umso mehr so, dass diese geistige Welle, von der Rudolf Steiner oft spricht, dass diese Welle in die Menschheit und in die Menschen hinein will, die von den Menschen aufgenommen werden will, noch viel stärker in die Menschen hinein will als damals. 

 

Die Menschen wollen allerdings dieser geistigen Welle nicht entgegengehen. 

Und vor allen Dingen wollen Sie dieser geistigen Welle nicht in der richtigen Weise entgegengehen. Sie können sich nicht vorstellen, dass es noch etwas Anderes gibt als dieses alte Kopfdenken, mit dem sie jahrhundertelang ihre Angelegenheiten geordnet haben. Sie scheuen die Arbeit, die auf sie zukommt, und sie fürchten die Null. Aber dann wird eben die Null, die man nicht denkend innerlich in sich erleben will, im äußeren Leben erscheinen. Die Null muss erlebt werden – so oder so.

   

   

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