von Stella Hagel
Meine kleine Schwester Sieglinde hatte kein besonderes Maltalent. Aber alles, was ich tat, tat sie mir getreulich nach. „Ech auch!“ war ja ihr geflügeltes Wort. Ab und zu hat es mir mächtig gestunken, immer Jemanden hinter mir her zu haben, der mir alles abguckte, und beim Malen hielt ich manchmal etwas vor mein Bild, um vor ihren nacheifernden Blicken geschützt zu sein. Malte ich eine Wiese, malte sie auch eine. Malte ich einen Baum, erschien auch auf ihrem Bild ein Baum. Malte ich eine Blume, prompt erschien auch auf ihrer Wiese eine. Mein etwas liebloses Tun korrigierte sich von ganz alleine, denn ich musste eine eigenartige Feststellung machen, nachdem unsere Bilder fertig gemalt waren.
Ich war eine Sehnsuchts-Malerin. Ich malte Landschaften, nach denen ich mich sehnte, in denen ich lieber verweilen wollte als dort, wo ich gerade war. Ich malte Berge, Seen und Wälder, die in meiner Fantasie die Wirklichkeit an Schönheit übertrafen. Sehr stimmungsvoll waren meine Bilder. Doch zu meiner Verwunderung sprang meine Sehnsucht in dem Augenblick, indem ich das Bild meiner kleinen Schwester sah, schwupp, in dieses hinein. Oh, wie war es dort schön! Diese hellgrüne, saftige Wiese, diese knallbunten Blumen. Und die lustigen, kleinen Mädels mit den abstehenden Zöpfen, die mit dem bunten Ball spielten. Die knallroten Riesenäpfel an den schiefen Bäumen und die viel zu großen Vögel, die in der Luft herumstanden und viel zu schwer zum Fliegen waren und der steile Hügel, wo die Buben herunterrollten. Wie wunderbar wäre es, jetzt dort zu sein! Ich schaute auf mein eigenes Bild. Schön ja, aber ich wollte doch viel lieber auf dem Bild meiner kleinen Schwester sein, weil es dort so lustig zuging.