Schulnoten werden – vielleicht – abgeschafft

 

von Ingo Hagel 

 

Die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis Tepe, verlangt die Abschaffung von Schulnoten. 

„Zensuren sind nicht objektiv“, sagte Tepe der „Bild“ (Freitag).

Diese Meldung ruft bei mir einige Erinnerungen an meine eigene Schulzeit wach. Auch damals, vor über 50 Jahren, war die Abschaffung der Schulnoten im Gespräch, aber bekanntlich wurde daraus nichts. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich während meiner Schulzeit danach gesehnt hatte. Ich hatte damals keine Ahnung, was eine Waldorfschule war, in der es seit 100 Jahren keine Schulnoten gibt (beziehungsweise später erst in den obersten Klassen), und erst Jahrzehnte später erfuhr ich, dass meine Eltern in dieser Zeit tatsächlich daran gedacht hatten, mich von der Staatsschule, auf die ich ging, auf eine Waldorfschule wechseln zu lassen, denn sie hatten das Gefühl, das wäre besser für mich gewesen. Allerdings hatte sich das damals als nicht praktikabel herausgestellt, denn Waldorfschulen waren noch nicht so verbreitet wie heute, ich hätte viel zu weit fahren müssen und so weiter. So zerschlug sich das alles, aber die Sehnsucht nach der Abschaffung dieses Unsinns der Schulnoten blieb mir bis heute deutlich in der Erinnerung.

 

So machte ich mir damals aus einem merkwürdigen und guten Instinkt heraus  – wie ich später rückblickend entdeckte – meine eigene Waldorfschule: 

Statt Schulaufgaben zu machen – beziehungsweise nur so viel, wie gerade eben nötig – reparierte ich fleißig erst mein Mofa und später mein Moped, und schuf mir so als gesundenden Ausgleich für das ganze schwerverdauliche Zeug an meiner Staatsschule – aber es gab auch Gutes – meinen eigenen Werkunterricht und eine Arbeit mit den Händen – an einer Waldorfschule ein wichtiges Element des Lehrplans. Dies trug mich über manchen seelischen Kummer dieser Zeit hinweg.

Ich war ein künstlerisch begabtes Kind und schuf aus den verschiedensten Materialien in meiner Freizeit – anstelle eines leider unmöglichen Kunstunterrichtes an einer Waldorfschule – viele Plastiken, Kollagen und Gemälde. Auch lernte ich aus freien Stücken zwei Instrumente spielen, und während manche Jugendliche meiner Nachbarschaft mit dem Kauf, Verkauf und Konsum von Haschisch beschäftigt waren, übte ich stundenlang zum Beispiel chromatische Tonleitern auf meiner Trompete.

All das machte ich, weil glücklicherweise ein starker künstlerischer Drang als Ausgleich für diese intellektuelle Schulzeit der 60er und 70er Jahre mich dahin trieb und mich vor manchem Schädlichen dieser Zeit bewahrte – es fiel dann aber doch noch genügend Schädliches über mich her.

Sehe ich heute, was andere junge Menschen in der Staatsschule zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Unterricht an überflüssigem intellektuellen Ballast lernen müssen, dann frage ich mich, wie sie diese nutzlosen und die Seele verderbenden „Erkenntnisse“ im Leben jemals wieder überwinden sollen. Statt lebendiger Phänomene werden solche chemische Formeln und abstrakte Zusammenhänge geboten, die in dieser Form und in diesem jungen Alter auf einer Schule nichts verloren haben. 

Mein ganzes Leben lang wollte ich wissen, was Leben ist, was diese Kraft ist, die das Lebendige der belebten Organismen in der Natur schafft, in Pflanzen, Tier und Mensch. 

Anmerkung: Wie bei mir das Interesse für die Forschungsarbeit anfing, habe ich – neben manchem Anderem – hier beschrieben.

Eine Antwort darauf bot mir die Schule nicht, die Universität auch nicht, aber da mich ein glückliches Schicksal in frühen Jahren mit der Anthroposophie Rudolf Steiners in Verbindung gebracht hatte, ergab sich mir die Möglichkeit, mir meine Fragen zu beantworten. Mein Leben wurde dadurch nicht unbedingt leichter, denn diese geistige Bereicherung kann einen in schmerzvollen Gegensatz zum Hauptstrom dieser Zeit bringen – Mainstream also auch dort -, aber da muss man eben durch. Und auch man selber bringt ja so viele Dinge mit, die in nicht einfachen Metamorphosevorgängen verwandelt werden müssen. Wäre dem nicht so, dann wären wir nicht in diesem Leib und in diesem Leben auf dieser Erde.

Das alles zog mir durch die Seele, als ich obige Meldung las. Und ich dachte daran, wie lange es gedauert hat – wie gesagt, mittlerweile sind 50 Jahre vergangen, beziehungsweise 100 Jahre nach Begründung der Waldorfschulen – bis dann so ein kleines Element (der Schulnoten) eines wirklich modernen Schul- und Ausbildungssystems in die öffentliche und allgemeine Diskussion kommt.

 

Geht man heute wirklich konsequent vor, dann muss man jedoch das gesamte Schul- und Ausbildungssystem aus dem Zwang dieses alten Einheitsstaates

– der nicht nur über die Wirtschaft, sondern auch über die Methoden der Bildung und so weiter regieren will – herauslösen. Ah ja, und dann höre ich sie wieder, die klein- und großbürgerlichen Proteste von überall. Das kann sich doch keiner vorstellen. Ein freies Geistesleben, was soll das denn? Nun ja, ich verstehe das, denn wenn man den Geist, beziehungsweise den auf die Stufe des Intellektes herabgesunkenen Geist nur dazu benutzt, um Exportweltmeister zu werden, das heißt, wenn man nur in der Anwendung des Geistes auf die Sinneswelt vor sich hinträumt, dann kann man natürlich kein Verständnis weder für diesen, noch für einen freien Geist oder für die Notwendigkeit der Selbstständigkeit des geistigen Lebens innerhalb der sozialen Gemeinschaft (Gesellschaft) haben. Warten wir vielleicht also noch einmal 50 oder 100 Jahre – wenn es bis dahin nicht längst zu spät ist. Dann können wir vielleicht auch solch eine Meldung lesen:

GEW fordert Unabhängigkeit des Bildungs- und Schulsystems von staatlicher Gängelung!

Bis dahin wird man auf so vielen Gebieten in äußerlichster Weise versuchen, so mal gerade eben mit kleinen Reparaturmaßnahmen und Pannenhilfen den Notwendigkeiten der Zeit nachzukommen.

 

Und vielleicht werden die Staatsschulen schrittweise auf ihren Rückzugsgefechten ein Element nach dem anderen von den Waldorfschulen, die es mittlerweile seit fast 100 Jahren gibt, übernehmen. 

Aber am Ende – nachdem man die Schulnoten an den Staatsschulen abgeschafft hat, Kunst- und Theater-AGs eingeführt hat sowie ein Weihnachtsspiel, in dem der heilige St. Martin Schulz den Armen wieder zu Brot und Kleidung verhilft, die Schulkantinen auf Ökoprodukte umgestellt hat und so weiter und so fort – am Ende werden sich die GEW, die Lehrer, die Eltern und die Schüler dann sagen müssen: Verdammt, irgendwas fehlt noch. Und dann wird man lange überlegen müssen. Und irgendwann wird man dann vielleicht merken, was man vergessen hat: Ach ja, den Geist haben wir vergessen. Den Geist der Waldorfschulen haben wir nicht übernommen. Aber vielleicht wird dieser dann auch dort bereits völlig verdunstet sein, so wie er heute bereits in so vielen sogenannten „anthroposophischen“ Institutionen bereits verdunstet ist.

 

 

 

 

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