Schöne Weihnachten? – Aktiver Denkwille statt passive Dumpfheit der Sinne!

von Ingo Hagel

Man darf sicher sein, dass die Marketingbranche ihre Finger immer ganz dicht am Puls der Zeit und der Menschen hat. In diesem Sinne sind die weihnachtlichen Verhaltensempfehlungen, die ich gestern (als ein Beispiel von vielen) in dem Magazin eines großen Warenhauses in Deutschland fand, als Reaktion auf die heftigen Krankheits-Symptome unserer „modernen“ Gesellschaft zu verstehen: Unter dem Titel „Oh, du Tafelfreudige“ wurde (in der Ausgabe 06/11) Weihnachten als das Fest der Sinne, des Essens und der Geschenke gepriesen:

„ …. neben den Geschenken spielt das Kulinarische die Hauptrolle …. Genuss ist also immer eine sinnliche Erfahrung – macht also hoch die Tür, damit Weihnachten zu einem sinnlichen Erlebnis wird.“

Ein Fest, das einmal mit einer geistigen Botschaft aus einer höheren Welt als der sinnlichen in Beziehung gebracht wurde, ist heute heruntergesunken zu einem Termin, bei dem die Hauptsache das sinnliche Erlebnis einer (möglichst schmackhaften) Nahrungsaufnahme darstellt.

Mit Recht möchte kaum einer, der sich für einen modernen Zeitgenossen hält, heute zurück zu einer alten, vielleicht naiv-gemüthaften Auffassung des Weihnachtsfestes oder zurück zu kirchlichen Dogmen. Aber, wie die oben angeführten Zeilen dieses Magazins zeigen, wollen sich heute nur wenige zu der Auffassung einer neuen – und wirklich frohen – Botschaft aufschwingen. Diese liegt jedoch nicht in einer immer weiteren Vertiefung in die Sinneswelt – die ja durchaus ihr Berechtigtes hat – sondern muss aus einer aktiven Überwindung beziehungsweise Ergänzung dieser Sinneswelt erfolgen. Das geschieht durch das Denken. Dieses fügt zu den Sinneswahrnehmungen, die allein für sich ja überhaupt nichts aussagen, eine ideelle Bestimmtheit hinzu. Ohne diese eigene, innere und aktive Tätigkeit des Menschen könnte man in dieser Welt der Sinne die Bedeutung der verschiedenen Wahrnehmungsobjekte nicht unterscheiden. Ob zum Beispiel das eine Sinnesobjekt (Fühler einer Schnecke) bedeutender, wertvoller einzustufen ist als das andere (Gehirn des Menschen), die Möglichkeit dieser Bestimmung kommt nur dem menschlichen Denken zu, das zu den Sinneswahrnehmungen aktiv und aus sich heraus Begriffe zu den gleichgültig nebeneinander liegenden Sinneswahrnehmungen hinzufügt.

Heute halten die Menschen die Sinneswelt beziehungsweise die Erlebnisse der Sinne für das einzig Reale – und gestalten ihr Leben und ihre Feste danach. Dieses Erlebnis der Sinneswahrnehmung ist gerade durch die vielen Sinneseindrücke (Medien, Schnelllebigkeit der Zeit und deren Ereignisse etc.) so überwältigend geworden, dass man folgendes nicht mehr einsehen kann: Eine Ganzheit – und damit eine Wirklichkeit und eine Heilheit dieser kranken Welt – entsteht nur, indem man zu der einen Hälfte der Welt, die dem Menschen ohne eigenes Zutun als Sinneswahrnehmung gegeben ist, die andere Hälfte aktiv über eine Bildung von Begriffen und Ideen hinzufügt.

Rudolf Steiner legte diese Aspekte vor vielen Jahren bereits in seiner Philosophie der Freiheit und anderen Werken dar. Der Untertitel dieses im Jahre 1894 erschienenen Buches lautet „Grundzüge einer modernen Weltanschauung“. Diese Beschreibung ist heute so zutreffend wie damals. Und wer – wie so viele Menschen heute – sagt, dieses Buch sei veraltet, der erfasst in seinen unwilligen Denkmustern nur noch (Jahres-) Zahlen und nicht mehr – hochaktuelle – Inhalte und Ideen.

Die Folgen dieses fehlenden Willens, selber aktiv denken zu wollen,  sehen wir heute in den verschiedensten Niedergangsfacetten der Welt. Letztendlich verliert sich dann auch der Mensch selber. Denn dieser existiert als Mensch (und nicht als höheres Tier mit Sinneswahrnehmung) eben nur dadurch, dass er sich selber durch seine Denktätigkeit – nicht seine sinnliche Selbstwahrnehmung sondern – sein geistiges Selbstbewusstsein und damit seine Existenz gibt. Verliert der Mensch jedoch den Zugang und Zugriff zu dieser aus seinem eigenen Willen heraus erfolgenden aktiven, sinngebenden, gedanklich-ideellen Tätigkeit, dann müssen sämtliche Sinneswahrnehmungen, einschließlich seiner eigenen Wahrnehmung schließlich zu einem unterschieds- und bedeutungslosem Brei zusammenfließen, der in seiner letzten Konsequenz schließlich auch den Menschen selber verschlingt. Dieser kann sich in diesem Sinneswahrnehmungssumpf nicht mehr selber erfassen und verliert im wahren Sinne des Worte seinen Lebensgrund: es gibt dann keinen Grund mehr zu leben. Die Zahl an Alkoholikern, Fast-Alkoholikern, Tabletten-, Schmerzmittel- und Drogensüchtigen, Depressiven, Selbstmordgefährdeten, an Schlaflosigkeit und/oder Angstzuständen Leidenden und vom Burnout-Syndrom Betroffenen ist insgesamt so hoch, dass man sich fragen kann, wer denn überhaupt in unserer „modernen“ Gesellschaft noch gesund und normal ist. Ist dies das Resultat eines Lebens in unserer doch ach so „fortschrittlichen“ Welt und deren geistigem Konzept, basierend auf einem Leben innerhalb zusammenhangloser – weil ideenloser – Sinneswahrnehmungen? Überall, in Schulen, Universitäten, den Berufen, den Medien, der Politik etc. wird – fast ohne Ausnahme – nach der Anweisung gearbeitet: Bitte nur ja nicht selber denken! Bitte mit dem Denken immer nur entlang der Sinneswahrnehmungen! Das Denken darf nur die Sinneswahrnehmungen abbilden! Nur ja keinen eigenen Gedanken zu dem Gegebenen der Sinneswelt hinzufügen!

Es ist ja nur eine geistlose Lüge, wenn dieses erwähnte Magazin sagt: „Genuss ist also immer eine sinnliche Erfahrung“.  Nein, das Gegenteil ist richtig: was für ein Genuss, wenn man es geschafft hat, sein eigenes Denken zu aktivieren und Ideen zu entfachen, die der Welt – der Sinneswahrnehmungen – allein erst einen Sinn geben, und der eigenen Existenz dazu. Auf diesem Wege des alleinigen Verfolgens der geistlosen Sinneserfahrungen wird die Menschheit immer weiter in die Sinnlosigkeit hineinschlittern. Mag aber die Welt dort draußen (egal ob es nun Weihnachts-Winter oder Hochsommer ist) auch finster, dunkel und bedrohlich sein oder erscheinen: Der Mensch kann durch sein Ideenlicht, das er durch seinen Denkwillen zu entzünden vermag, weil er eben ein Mensch ist und kein höheres Tier, diese oft finstere – weil unverständliche -Sinneswelt erhellen und ihr einen Sinn verleihen – und seinem Leben dazu.

Das neue Licht, das Geisteslicht der Anthroposophie, ist in der Welt, und der Mensch kann es in sich entzünden, weil Rudolf Steiner ihm dazu durch sein Werk die (Denk-) Wege vorgezeichnet und freigekämpft hat. Aber der Mensch muss diesen Weg aus sich heraus aktiv gehen. Das ist ungewohnt, anstrengend, und mühsam.

Auf der einen Seite verlieren sich die Menschen in dieser Sinnes-Passivität der Seele, auf der anderen Seite ist ein spirituelles Zeitalter angebrochen. Dieses erwartet jedoch den geistig aktiven Menschen. Dieser muss auf die Erfordernisse dieses neuen Zeitalters zugehen. Die Menschen ersehnen zwar auf dem Grunde ihrer Seelen ein Geistiges, ein Spirituelles, aber aus der Schwäche ihrer Lebensgewohnheiten und ihrem Glauben an die alleinige Sinneswelt heraus erwarten viele, dass sich dieses Geistige irgendwie analog einer Sinneswelt äußerlich vor sie hinstellt – was aber nur eine Art Gespensterwelt ergäbe. Die rechtmäßige Geisteswelt eines neuen Zeitalters wird dagegen eine Erfahrung in der aktiven Seele des Menschen sein, ein Innenprodukt, aber trotzdem nicht subjektiv. Eine geistige Welt „da draußen“ gibt es nicht, eine solche Objektwelt außer mir gibt es eben nur als Sinneswelt – mit all den oben beschriebenen Problemen (und natürlich Vorzügen). Daher können alle Schilderungen einer geistigen Welt  niemals Beweise sein, sondern nur Hinweise und Anregungen zu einer Eigenaktivität des Menschen, auf dass dieser eigene Erlebnisse habe. Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“ ist auch bis in diese Gebiete hinein in die Grundlage für eine Erkraftung des Menschen zu einer modernen – und spirituellen – Weltanschauung, indem sie den Weg zu einem Denken zeigt, das sich letztlich – als reines Denken – immer weiter lösen kann von der Sinneswelt und eine rein geistige Welt erfassen kann. Die Naturwissenschaft ist in ihrer soliden Beobachtungs- und präzisen Denkschulung am faktisch Gegebenen dazu eine gute Voraussetzung und Grundlage eines solchen Weges. Niemals kann sich daher die Anthroposophie in einer Gegnerschaft zu den Beobachtungen der Naturwissenschaft befinden – höchstens zu deren rein materialistisch ausgerichteten Schlussfolgerungen. Daher steht diese Naturwissenschaft heute vor der Notwendigkeit einer methodischen Erweiterung und Ergänzung. Davon dann nächstens mehr.

In diesem Sinne also: Schöne und frohe Weihnachten!