Rudolf Steiners Versuch, mit geraden Strichen einen Kreis zu zeichnen

 

von Ingo Hagel   

 

Immer wieder kann man bei den Ausführungen Rudolf Steiners den Eindruck bekommen, dass er mit geraden Strichen einen Kreis – 

oder auch noch ganz andere lebendige Formen – 

zeichnen muss. Warum nenne ich es gerade Striche? Weil dieser Versuch, diese lebendigen und organischen Formen der Geschehnisse der geistigen Welt darzustellen, nur in den steifen, geraden und daher unpassenden Worten und Begriffen geschehen kann, die für die Sprache diese physischen Welt vorhanden und geprägt sind. Rudolf Steiner hat oft auf diese Schwierigkeit aufmerksam gemacht, dass sich die Worte dieser physisch-sinnlichen Welt –

die immer geprägt sind für Dinge, die da sind –

so schwer eignen für eine Darstellung der übersinnlichen Dinge –

die eben nicht da sind. –

 

Wenn Rudolf Steiner also mit diesem Lineal der Worte, 

die bisher nur zur Kennzeichnung von Dingen der sinnlichen Welt geprägt wurden –

weil es eben noch keine anderen Worte, Darstellungs- und auch Verständnismöglichkeiten gibt –

die Dinge der übersinnlichen Welt kennzeichnet, dann muss er zuerst einmal einen Strich ziehen. Da sagen die Leute: 

Ah, ja! Das ist ein Strich! 

Zeichnet Rudolf Steiner dann einen zweiten Strich dazu, dann sagen sie: 

Oh ja! Das sind Parallelen. – 

Oder vielleicht auch: 

Na klar! Das ist ein Winkel. 

Bei einem dritten Strich glauben sie, ein Dreieck zu sehen. Und erst nach vielen gezeichneten Strichen mit dem Lineal kann einem aufgehen –

wenn man die rechte Gedankenintuition zur Verfügung hat, die sieht, was in der Sinneswelt nicht zu sehen ist, weil da nur lauter Striche zu sehen sind –

dass es sich eben nicht um einen Haufen wirrer Linien handelt, sondern dass diese Linien auf einen Kreis oder andere organische, lebendige Formen deuten. 

 

Auf der anderen Seite geht es darum, den lesenden Menschen –

oder – damals – auch den Rudolf Steiners Vorträgen zuhörenden Menschen –

in seinem Denken vom Ich aus zu aktivieren. Das kann aber dem Menschen nicht wie ein Impfmittel injiziert werden. Man kann ihn immer nur auf mit dem geraden Lineal gezeichnete bewegte Formen hinweisen – und dass er Begriffe habe – 

also: haben und entwickeln möge – 

wie Rudolf Steiner bereits in der „Philosophie der Freiheit“ ausführte: 

Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe.

 

Aber was diese Begriffe sind, das kann man den Menschen nicht so einflößen, 

wie man ihm die Bedeutung eines Autobahnschildes in der Fahrschule erklärt, das zum Beispiel besagt, dass ab hier alle Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben sind. Der Okkultist darf das Ich des Menschen niemals direkt anfassen – und er würde selbstverständlich niemals derart in die Freiheit und in das heiligste Innere des Menschen eingreifen. So kann er immer nur von außen Richtungen weisen: 

Mache dieses. Denke an jenes. Bewege dich hierhin. Schaue und denke mal hier. 

Aber machen, denken, sich bewegen innerlich muss der Mensch selber. Das ist gerade dieser große Ich-Aspekt bei allem, was mit der „Philosophie der Freiheit“ zusammenhängt – also auch der Anthroposophie. Kinder fasst man selbstverständlich an und trägt sie weg, wenn sie beginnen, irgendwo dummes Zeug zu machen. Das geht vor allem mit Menschen, die frei werden sollen, nicht. Ihnen kann man nur Hilfe zur Selbsthilfe angedeihen lassen. Und man ist als Darstellender gezwungen, mit einem geraden Lineal organische Formen zu zeichnen – und darauf zu hoffen, dass sich diese Verständnishilfe im Leser von selber in die rechten Intuitionen umwandeln möge – dass es sich also von selber macht, wie Rudolf Steiner hier in dieser GA 65 ausführte:   

Man ist gewohnt, im gewöhnlichen Leben nur dasjenige «Wissen» zu nennen, wozu man dadurch kommt, dass man gewisse Tatsachen aufzeigt, die schon vor der Erlangung des Wissens da sind. Für die geistigen Tatsachen wäre diese Denkweise genau dasselbe, wie wenn man sagen würde: Ich will einem anderen etwas mitteilen, aber ich spreche es nicht aus, denn dadurch, dass ich es ausspreche, ist es nicht mehr eine objektive Tatsache, die da ist; es muss sich von selber machen.

 

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GA 65 S. 68 

Man ist gewohnt, im gewöhnlichen Leben nur dasjenige «Wissen» zu nennen, wozu man dadurch kommt, dass man gewisse Tatsachen aufzeigt, die schon vor der Erlangung des Wissens da sind. Für die geistigen Tatsachen wäre diese Denkweise genau dasselbe, wie wenn man sagen würde: Ich will einem anderen etwas mitteilen, aber ich spreche es nicht aus, denn dadurch, dass ich es ausspreche, ist es nicht mehr eine objektive Tatsache, die da ist; es muss sich von selber machen. – So wie man in dem Aussprechen etwas erzeugt, was sich aber doch nicht bloß seinem Inhalte nach in dem Ausgesprochenen erschöpft, so ist das geisteswissenschaftliche Erkennen an eine Tätigkeit gebunden, in der dasjenige erst aufgeht, was Inhalt des Wissens ist, so wie sich erst im Sprechen das erzeugt, was der Inhalt des Sprechens ist. Und man kommt jetzt wirklich dazu, einzusehen, dass auf geistigen Gebieten in einer höheren Form dasjenige vorhanden ist, wozu sich die Naturwissenschaft seit ungefähr der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durchgerungen hat: das, was man «Umwandlung der Kräfte» nennt. Umwandlung der Kräfte ist es zum Beispiel – nun in der einfachsten Form – : Sie drücken auf den Tisch, und die Kraft Ihres Druckes, die Arbeit Ihres Druckes verwandelt sich in Wärme. Ihre Druckkraft ist nicht verlorengegangen, sondern sie hat sich umgewandelt. Dieses Gesetz der Umwandlung der Kräfte hat ja die naturwissenschaftliche Gesinnung ergriffen und dadurch eine große Bedeutung erlangt. Derjenige, der als Geisteswissenschafter sich bis zu dem Punkte bringt, den ich angedeutet habe, der lernt erkennen, dass dasjenige, was unserem ganzen Denken zugrunde liegt und was ich eben jetzt «die todbringenden Kräfte» genannt habe, in der Tat ewige Lebekräfte sind, aber als ewige Lebekräfte sich nur betätigen können, wenn sie nicht einen Organismus, einen physischen Organismus ergreifen. Wenn sie vor der Geburt oder, sagen wir, vor der Empfängnis, in der rein geistigen Welt vorhanden sind, da sind sie ewige Lebekräfte. Und sie müssen die Form der ewigen Lebekräfte verlieren, sie müssen sich umwandeln in solche Kräfte, die nun zwischen Geburt und Tod das Organ des physischen Denkens aufbauen. Sie haben damit zu tun, dass sie das Organ des physischen Denkens aufbauen. Sie können also erst wiederum sich in ihrem Geistcharakter betätigen, wenn das Organ des physischen Leibes, das Denkorgan, abgebaut ist. Daher ist es wirklich unmöglich, innerhalb des physischen Lebens das zu finden, von dem jetzt gesprochen worden ist. Denn man könnte gar nicht im gewöhnlichen Sinne denken, wenn man das finden könnte, wovon gesprochen worden ist. Man denkt im physischen Leben – das zeigt insbesondere die Geisteswissenschaft – mit dem Denkorgan. Nicht das Denken ist von dem ewigen Wirken und von den ewigen Kräften der menschlichen Seele geschaffen, sondern das Denkorgan; das muss zunächst immer da sein, damit das Denken sich betätigen kann. Dieses gewöhnliche physische Denken müsste also aufhören, wenn man gerade das anschauen wollte, worauf es ankommt. Nicht das Denken kommt aus den ewigen Kräften, sondern das Denkorgan, das hinter dem Denken verborgen bleibt. Und gerade dieses Denkorgan muss verborgen bleiben, damit das Denken zum Vorschein kommen kann.