Rudolf Steiner zum Überschreiten der Schwelle zur geistigen Welt durch die gesamte Menschheit

 

Buch: 190 Seite: 145 

Aus den verschiedenen Besprechungen unserer gegenwärtigen Menschheitsentwickelungsanlage werden Sie gesehen haben, daß von einem gewissen höheren Gesichtspunkte aus über die Gegenwart gesagt werden muß, daß die Menschheit eine sehr bedeutsame Phase ihres Daseins durchschreitet. Wenn ich sage: in der gegenwärtigen Zeit —, muß man sich natürlich bewußt sein, daß diese Gegenwart eine sehr, sehr lange Zeit ist, und wenn wir heute von der Gegenwart sprechen, so sprechen wir im wesentlichen von der Entwickelungszeit der Bewußtseinsseele, in welche die Menschheit, wie wir ja wissen, um die Mitte ungefähr des 15. Jahrhunderts eingetreten ist, und in der sie zweitausend Jahre lang sein wird. Wir wissen, daß diese Zeit der fünfte nachatlantische Zeitraum ist, und wir wissen ferner, daß dieser Zeitraum abgelöst werden wird von einem anderen, in dem eine ganz andere Wesenheit der menschlichen Natur an die Oberfläche dringen wird, als in den verflossenen Zeiträumen da war. Bedenken wir nur einmal, was da eigentlich vorliegt. 

Wir gliedern ja die Gesamtentwickelung der Menschheit, ob wir nun längere oder kürzere Zeiträume ins Auge fassen, immer in siebengliedrige Phasen. Wir stehen also jetzt im fünften Zeitraum und wissen, daß im sechsten Zeitraum das Geistselbst in einer gewissen Art von der Menschheit Besitz ergreifen soll, daß unser Zeitraum, wenn er auch im wesentlichen zum Ausdruck bringt die Bewußtseinsseele, der Entwickelung des Ich angehört. Damit sehen Sie schon, daß beim Übergange von dem fünften in den sechsten nachatlantischen Zeitraum der Mensch eine Art Rubikon überschreitet, der Mensch als ganze Menschheit eintritt in eine Entwickelungsphase, welche hinaufgeht in die höhere Geistigkeit. Das ist eine sehr wichtige, eine bedeutungsvolle Tatsache. Nun ist es immer unzulänglich, wenn man Entwickelungszustände im großen, also zum Beispiel Entwickelungszustände, die die ganze Menschheit betreffen, charakterisiert durch Entwickelungszustände des einzelnen Menschen. Es kommen da leicht bloße Vergleiche zustande. Das, was ich jetzt anführen werde, ist allerdings mehr als ein bloßer Vergleich, aber Sie müssen sich hüten, die Sache pedantisch zu nehmen, Sie müssen die Sache weitherzig nehmen. 

Sie wissen, wenn der Mensch eintritt in diejenige Welt, die wir die übersinnliche nennen, dann hat er dasjenige zu überschreiten, was wir die Schwelle des Hüters nennen. Man kommt hinüber in die übersinnliche Welt durch das Überschreiten dieser Schwelle. Dieses Überschreiten finden Sie in dem kleinen Büchelchen «Die Schwelle der geistigen Welt» von mir geschildert. Wenn Sie dasjenige, was dort geschildert ist, zusammennehmen mit gewissen Kapiteln der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dann bekommen Sie nach einer gewissen Richtung hin genauere Vorstellungen. Sie wissen, daß jene Zusammenfügung, die in der Menschenseele aus Denken, Fühlen und Wollen besteht, mehr gespalten wird, wenn man die Schwelle überschreitet, daß gewissermaßen das Denken an sich selbständiger wird, das Fühlen an sich selbständiger wird, das Wollen selbständiger wird, während im gewöhnlichen Geistesleben diesseits der Schwelle diese drei Tätigkeiten des Menschen mehr zusammengeschmolzen sind, mehr ineinandergewoben sind. 

Also diese zwei Tatsachen wollen wir ganz genau berücksichtigen, daß, wenn man in die übersinnliche Welt eintreten will, man zu überschreiten hat die Schwelle, daß dann gewissermaßen eine Art Spaltung eintritt der drei Haupttätigkeiten des menschlichen Seelenlebens, die selbständig macht Denken, Fühlen und Wollen. Das, was der Mensch so bewußt beim Übergang in die übersinnliche Welt durchmachen kann, das macht, ohne daß es dem einzelnen Menschen bewußt werden müßte, die ganze Menschheit durch in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum. In diesem fünften nachatlantischen Zeitraum liegt die Schwelle, durch die die Gesamtmenschheit durchgehen muß. 

Daß die gesamte Menschheit durch diese Schwelle durchgeht, das braucht den einzelnen Menschen so unmittelbar gar nicht zum Bewußtsein zu kommen. Wenn die Menschen zum Beispiel beharren würden bei der Gesinnung, die die Mehrzahl jetzt hat, bei der Ablehnung aller geistigen Erkenntnisse, dann würde zwar die gesamte Menschheit doch im Laufe dieses fünften nachatlantischen Zeitraums durch die Schwelle durchgehen; aber die Menschen würden in ihrer Mehrzahl das nicht bemerken. Jenes gewaltige Ereignis für die Menschen, das ein geistig-seelisches Ereignis ist, und das gekennzeichnet werden kann als der Durchgang durch die Schwelle, es kann den Menschen nur bewußt werden, wenn sie sich einlassen auf diejenigen Erkenntnisse, welche durch die Geisteswissenschaft vermittelt werden. Aber selbst wenn kein Mensch bemerken würde, daß dieser Durchgang der gesamten Menschheit durch die Schwelle stattfindet, daß die Menschheit eigentlich schon jetzt in diesem Durchgang begriffen ist, so würde dasjenige, was dieser Durchgang für die Entwickelung der Menschheit bedeutet, doch wirklich da sein. Daß so etwas ein Ereignis in der Menschheitsentwickelung ist, hängt gar nicht ab davon, ob die Menschen das bemerken oder nicht. Den Menschen kann das Bemerken verlorengehen. Sie können durch ihre Starrköpfigkeit dem Eingange des Wissens von dieser Tatsache ein Hindernis entgegensetzen. Aber daß sich dasjenige, was diese Tatsache bedeutet, in der ganzen menschlichen Entwickelung zum Ausdrucke bringt, das wird dadurch nicht verhindert. 

Wenn Sie das zunächst in dieser Abstraktheit nehmen, dann werden Sie sich sagen können: Während dieses unseres fünften nachatlantischen Zeitraums, während der Entwickelung der Bewußtseinsseele, geht mit der Menschheit Bedeutungsvolles, Großartiges vor sich. Und zwar geht mit der Menschheit auch das vor sich, daß eine gewisse Trennung des Gedankenlebens, des Gefühlslebens und des Willenslebens stattfindet. Also bitte, fassen Sie das klar ins Auge. Eine gewisse Trennung, eine Verselbständigung des Gedankenlebens, des Gefühlslebens, des Willenslebens geht mit der Menschheit vor sich im fünften nachatlantischen Zeitraum. Diese drei Gebiete des Seelenlebens der Gesamtmenschheit werden selbständiger. Und das wird die Menschheit der Zukunft unterscheiden von der Menschheit der Vergangenheit, daß die Seele in der Vergangenheit mehr in sich zentralisiert war, während die Seele in der Zukunft sich dreigliedrig fühlen wird. Wenn der Mensch einsam für sich sein wird, wird er ja seine Entwickelung durchmachen können in dem Sinne, wie wir sie angedeutet finden in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»; das geht den einzelnen individuellen Menschen an. Indem aber die Menschen zusammen sind – die Menschen sind ja zusammen als Volk, als Staat, im Wirtschaftskreislauf und so weiter -, indem die Menschen miteinander verkehren, ihre gemeinsamen Interessen erkennen und befriedigen, entwickelt sich das, was ich eben charakterisiert habe, entwickelt sich im lebendigen Verkehr der Menschen diese Spaltung des Gesamtseelenlebens in die drei Sphären, weil, wie gesagt, hinter den Kulissen des Daseins die gesamte Menschheit durch eine Entwickelungsphase durchgeht, die man vergleichen kann mit dem Durchgang des einzelnen Menschen durch die Schwelle zur übersinnlichen Welt, mit dem Übergang des einzelnen Menschen durch die Schwelle zur übersinnlichen Welt. 

 

 

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