Rudolf Steiner zum Materialismus und dessen Überwindung

 

(GA 335 S. 191)

Ich versuchte auf die hier zugrundeliegenden Tatsachen 1908 einmal in der folgenden Weise hinzuweisen. Ich sagte: Auf der einen Seite steht seit drei bis vier Jahrhunderten als eine allgemeine Menschheitskraft da, daß die Menschen auf ihre eigene Individualität immer mehr und mehr gestellt sein wollen, daß sie in sich selbst finden wollen die Impulse zu alledem, was sie eigentlich im Leben anstreben. 

Aber während dies bei vielen Menschen als etwas tief Unbewußtes zugrunde liegt, das sie sich nur nicht klarmachen wollen, weil sie sich im Grunde genommen vor diesem ihrem innersten Wesen selber noch fürchten, trat nun – ich möchte sagen wie der Schatten bei einem starken Licht – diesem Freiheitsstreben, diesem Streben nach individuellem Ausleben des einzelnen Menschen etwas entgegen, was eigentlich gegen all das wirkte, was in der Menschennatur sich heraufgebildet hatte durch lange Zeiten; es trat in den letzten drei bis vier Jahrhunderten etwas hervor, das gegen allen Drang der Menschennatur wirkte, und das wurde gegen die Gegenwart hin immer größer. Ich sagte: Während es heute eigentlich den Menschen natürlich ist, nach individuellem Ausleben zu streben, sieht man, wie die Menschen, weil sie sich selbst nicht verstehen in diesem ihrem modernsten Streben, eigentlich äußerlich das polarisch entgegengesetzte Ziel hinstellen. Ich charakterisierte es 1908 etwas grotesk, aber man wird mich auch heute noch verstehen, wie mich viele dazumal verstanden haben. Ich sagte: Es schaut so aus, als wenn die Menschen gar nicht nach Ausgestaltung der Individualität strebten, sondern nach einem solchen staatlichen, gesellschaftlichen, sozialen Organisieren, das überhaupt dem Menschen nichts mehr anderes möglich macht, als daß er sich auf allen Wegen und Stegen des Lebens so bewegt, daß links von ihm der Arzt und rechts der Polizeimann steht – der Arzt, damit er fortwährend für die Gesundheit sorgt, ohne daß der Mensch im geringsten es nötig hat, sich seinem eigenen Urteil über seine Gesundheit hinzugeben, der Polizeimann, damit er sorgt dafür, daß der Mensch die Richtung des Lebens finde, ohne daß der Mensch selber sich diese Richtung des Lebens gibt. 

Man verfolge nur einmal, was trotz aller Aufklärung, trotz alles angeblichen Freiheitssinnes nach diesem Ideal hin – mehr oder weniger unbewußt – in der neueren Zeit ausgerichtet ist. Da mußte schon einmal gesagt werden: Gehen wir weiter in dieser Richtung, dann kommen wir in einen furchtbaren Niedergang hinein. Zu einem Aufstieg kommen wir nur, wenn wir danach streben, in der Menschheit das heranzuziehen, was allmählich möglich macht ein soziales Zusammenleben der Menschen, das erfüllt ist von gegenseitigem vollen Vertrauen. Wir müssen den Glauben an die Menschen gewinnen; wir müssen den Glauben daran gewinnen, daß es durch eine entsprechende, im echt menschlichen Sinne gehaltene Erziehung, durch eine Entwicklung unseres Menschentums eben möglich werden kann, daß wir in den Angelegenheiten des Lebens, die etwas mehr beanspruchen als das Aneinander-Vorübergehen-Können auf der Straße, miteinander auskommen können, und zwar so, wie wir miteinander auskommen, wenn wir uns auf der Straße begegnen. Denn wenn die Menschen einander auf der Straße begegnen, dann geht der eine links und der andere rechts; sie gehen aneinander vorbei, es rempelt nicht jeder den anderen an. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Wird jener Quell in der Menschheit eröffnet, von dem ich als der wahren Intuition in meiner «Philosophie der Freiheit» spreche, dann kann man in den höheren Angelegenheiten des Lebens eine soziale Gemeinschaft ebenso auf Vertrauen gründen, wie man schließlich das alltägliche Leben auf Vertrauen gründen muß, denn es geht ja nicht an, daß, wenn sich zwei Menschen auf der Straße begegnen, ein Polizist hinzutritt und einem sagt: Du mußt da gehen, damit Du nicht an andere anstößt. – Diese Selbstverständlichkeit des Alltagslebens, sie kann auch hineingetragen werden in das höhere Leben, dort, wo Ernst des Lebens da ist, wo Ernst des Lebens kultiviert wird. 

Allerdings, zwei Forderungen über die Wege der Seele waren dazumal in dieser «Philosophie der Freiheit» gegeben. Die eine Forderung war, daß man sich nicht befriedigen dürfe mit dem Denken, das heute populär ist, das populär ist im alltäglichen Leben, populär ist in der Wissenschaft, sondern daß man aufsteigen müsse zur Heranerziehung desjenigen im Menschen, was die neue Zeit will: zu einem Denken, das aus seinem eigenen Urquell in der Seele des Menschen fließt, zu einem Denken, das in sich selbst lichtvoll und klar ist. Und hier muß ich wiederum aufmerksam machen – nicht achtend, daß mich der Vorwurf treffen kann, daß ich Schwerverständliches sage -, hier muß ich darauf aufmerksam machen, wozu eigentlich die traditionelle Erziehung führt im Menschenleben: sie führt zum Gegensatz dessen, was ich als eine notwendige Zukunftsforderung in meinem letzten Vortrag hier beschrieben habe. 

Wenn ein Mensch sich heute durch nichts anderes ausbildet als durch das, was ihm zufließen kann aus dem Traditionellen der Bekenntnisse und aus der neueren naturwissenschaftlichen Ideenwelt, wenn er seine Gedankenformen des Alltags auf nichts anderes gründet als auf dasjenige, was er aus den Darstellungen naturwissenschaftlicher Weltanschauung, aus der populären Literatur, aus der Literatur überhaupt, aus Journalismus und Zeitungswesen hat, dann, meine sehr verehrten Anwesenden, dann wird der Mensch Materialist. Warum wird er Materialist? Er wird Materialist aus dem Grunde, weil er sein Denken ja nicht befreit von der Leiblichkeit, weil er nicht danach trachtet, jenen Quell in seiner Seele zu finden, der loslöst die Seele von der Leiblichkeit; dadurch aber verfällt der Mensch im Leben in Abhängigkeit von der Leiblichkeit. 

Warum sind wir heute Materialisten? Nicht aus dem Grunde, weil wir falsch das Leben interpretieren, sondern weil wir falsch leben. Wir leben und wir erziehen unsere Kinder so, daß sie nicht mit der Seele denken, sondern daß sie nur mit dem Gehirn denken, denn das Gehirn kann ein Abdruck werden des Denkens. Wir schalten die Seele aus und denken mit dem Gehirn. Kein Wunder, daß wir dann auch über dieses Denken so reden, als ob es abhängig sei vom Gehirn; es ist für den größten Teil der Menschen heute abhängig vom Gehirn. Die Menschen sind materialistisch, weil sie materiell geworden sind mit ihrem ganzen Leben, weil sie nicht danach trachten, die Freiheit zu erringen durch ein Denken, das sich loslöst von der Leiblichkeit, das leibfrei wird – wenn ich diesen Ausdruck heute gebrauchen darf, den ich oftmals gerechtfertigt habe. Derjenige, der im Sinne der heutigen Zeitforderung sich selbst entwickeln will, der muß das Denken loskriegen von der Leiblichkeit. Er muß das Denken zu einer in sich selbst bestehenden, freien Beweglichkeit des Seelischen umformen. Er muß wissen, was es heißt: denken in dem bloßen Gedanken drinnen, nicht denken so, daß das Gedachte nur das Ergebnis des Gehirns ist. 

Die Frage ist heute ein Unding: Ist das Denken nur ein Ergebnis des Gehirns oder nicht? – Es ist Ergebnis des Gehirns, wenn wir es nicht erst loslösen von diesem Gehirn. Hier weise ich hin auf einen ganzen Knäuel von Irrtümern, in die die heutige Menschheit verstrickt ist, denn wir sind heute durch dasjenige, was sich die Menschheit im Laufe der geschichtlichen Entwicklung errungen hat, in der Lage, unser Denken bei voller, lichter Klarheit loszulösen von der Leiblichkeit. Wie löst man es los? Nicht etwa dadurch – das habe ich auch schon oftmals betont -, daß man unweigerlich selber Geistesforscher werden müßte, obwohl bis zu einem gewissen Grade jeder es werden kann, wenn er beachtet, was in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», in meiner «Geheimwissenschaft» und anderen dergleichen Büchern steht, aber man braucht das nicht einmal. Man braucht nur entgegenzunehmen vom Geistesforscher dasjenige, was er der Welt zu sagen hat – so wie man vom Astronomen, vom Chemiker, vom Physiker dasjenige entgegennimmt, was der Astronom, der Chemiker, der Physiker zu sagen hat. Man braucht nur heranzugehen an dieses Entgegenzunehmende mit seinem gesunden Menschenverstand. Aber man wird dann eine gewisse Entdeckung machen. Man wird die Entdeckung machen: Wenn du noch so lange mit deinem bloß an der Naturwissenschaft, an dem heutigen Leben herangezogenen Denken, mit deinem materiellen Denken das verfolgst, was der Geisteswissenschafter sagt, dann erscheint es dir als Phantastik, als Schwärmerei, als etwas, was du ablehnen mußt. Du begreifst erst das, was der Geistesforscher sagt, wenn du dir bewußt bist, daß das Denken losgelöst werden kann von der Leiblichkeit, daß du dich vertiefen kannst in dasjenige Denken, das hereingezogen ist aus geistigen Welten heraus bei der Geburt oder der Empfängnis, das hineinziehen wird in geistige Welten, wenn du durch die Pforte des Todes gehst. – Loslösung des Denkens von der Leiblichkeit ist ein erstes großes Ziel auf jenen Wegen, die verfolgt werden müssen von der Seele im heutigen Leben. 

Und ein anderes großes Ziel ist noch nötig: Wenn wir den Willen ausbilden, wie die Geisteswissenschaft es methodisch beschreibt – in den eben genannten Büchern ist es dargestellt -, dann wird dieser Wille den entgegengesetzten Weg machen wie das Denken. Das Denken befreit sich vom Leibe, es löst sich los vom Leibe. Der Wille aber wird gerade durch jene Schulung, die in diesen Büchern beschrieben wird, den Leib umso mehr ergreifen. Denn das ist das Eigentümliche namentlich des heutigen Menschen, daß er über den Willen sich ergeht in Abstraktionen, sich abstrakten Idealen hingibt mit dem Willen, von abstrakten Geboten hört von den Kanzeln herunter, daß diese abstrakten Gebote aber nicht in seinen Arm, nicht in seinen Leib hineingehen, nicht in seine Handlungen hineingehen. Daß der Mensch eins wird in dem, was er als die Impulse des Willens erlebt in seinem Leibe selber, dazu führt das zweite Glied jener Erziehung und Menschheitsentwicklung, die hier gemeint ist. Die Durchgeistigung des Leibes mit dem Willen, das Hineinführen des Willens in alles Sinnliche, in alles Leibliche und in alles Soziale, das ist dasjenige, was als zweites diese Geisteswissenschaft vermittelt. 

Und was wird aus den Idealen, wenn man sie in dieser Weise nach der Methode des geisteswissenschaftlichen Denkens in den Leib hinein gewissermaßen impft? Sie werden ergriffen, diese Ideale, von demjenigen, was sonst nur der gewöhnlichen Sinneswelt aus diesem Leibe zugelenkt ist. Das, was aus dem Leib nach und nach in unserer Kindheit erwacht, die Liebe, die sinnliche Liebe, sie wird, wenn der Mensch von Geisteswissenschaft ergriffen wird, so, daß nun auch alle Ideale nicht bloße Abstraktion bleiben, daß sie nicht bloße Gedanken bleiben, sondern daß sie geliebt werden, geliebt werden mit dem ganzen menschlichen Wesen; sie wird so, daß man das Geistige, das unserer Moral, unserer Ethik, unserer Sittlichkeit, unseren religiösen Impulsen zugrunde liegt, so liebt, wie man einen geliebten Menschen liebt, daß einem dasjenige, was sonst abstrakt bleibt, ganz und gar konkret wird wie ein Wesen aus Fleisch und Blut. 

Daher mußte überwunden werden durch die «Philosophie der Freiheit» aller kategorische Imperativ Kants, der schon Schiller sehr gestört hat, weil dieser kategorische Imperativ in das Menschenleben hereinragt wie etwas, dem man sich unterwirft. Und das, was Kant sagt aus einem Bewußtsein heraus, das heute überwunden werden muß, wenn wir weiterkommen wollen: «Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz aufstellst …, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im Geheimen ihm entgegenwirken» -, das muß ersetzt werden durch das andere: Freiheit, du wunderbares Geistgebilde, das alles in sich schließt, dem sich meine Menschheit liebend ergeben möchte! – Schiller wurde gestört durch den unmenschlichen kategorischen Imperativ Kants, und er sagte: «Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.» – «Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.» Schiller sah empfindungsgemäß das ganze Philiströse und Unmenschliche in diesem kategorischen Imperativ. Er lebte noch nicht in der Zeit, in der man wie in der Gegenwart – darauf hinzuweisen hatte, daß über alle Naturgrundlage hinaus in geistigen Grundlagen dasjenige gesucht werden müsse, was sich als geistige Wissenschaft vereint mit dem Menschenwesen, und was das, was in uns geistig leben soll, zu einem Impuls der Liebe macht. Wird ein solcher Impuls der Liebe unter Menschen zum sozialen Antrieb, dann wird die soziale Gemeinschaft auf Vertrauen gestellt. Dann steht der Mensch dem Menschen gegenüber so, daß dasjenige, was zwischen den Menschen geschieht, durch das Erleben jedes einzelnen Menschen geschieht, nicht dadurch geschieht, daß die Menschen wie eine Tierherde leben und durch irgendeine Organisation von oben ihnen alles dasjenige befohlen wird, alles angeordnet wird, was die Richtung, der Weg ihres Lebens sein soll. 

  

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