Rudolf Steiner zum Materialismus, mit dessen bloßer Widerlegung es nicht getan ist

 

(aus GA 197 S. 124) 

Mit bloßen Widerlegungen des Materialismus ist es nicht getan, denn die Sache liegt so in bezug auf den Menschen: Der Mensch besteht wirklich seiner ganzen Veranlagung nach aus einem Geistig-Seelischen. Dieses Geistig-Seelische lebt schon vor unserer Konzeption, vor unserer Geburt. Es hat sich herausgebildet aus unserer früheren Erdenverkörperung, es ist durch die geistige Welt hindurchgegangen; aber es schafft sich hier, indem es Fleisch annimmt, ein physisches Nachbild, aus Nervensystem, Knochensystem, Blutsystem bestehend. Und nun haben wir hier zweierlei: den geistig-seelischen Menschen, und das Abbild davon, den physisch-leiblichen Menschen. Wenn wir nun gewöhnliche abstrakte Gedanken fassen, was denkt da in uns? Da denkt nicht der geistig-seelische Mensch. Gerade dann, wenn wir abstrakte Gedanken fassen, wenn wir am meisten mit irdischer Logik arbeiten, dann denkt in uns das leibliche Gehirn. Und das Wichtige ist, daß man weiß, die Behauptung der Materialisten, daß das Gehirn denke, ist ganz richtig für den Fall, daß in abstrakten Gedanken gedacht wird, denn das physische Gehirn ist ein Abbild des geistigen Gehirns, und dieses Abbild schafft ein Abbild, und das abstrakte Denken ist nur Abbild. So daß man sagen kann, für diesen Fall des abstrakten Denkens denkt das Gehirn. 

Das ist nur eine Spezialwahrheit dessen, was ich an früherer Stelle gesagt habe. Der Materialismus ist nur darauf gekommen, daß in demjenigen Denken, welches in unserem Kulturzeitraum, namentlich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, im Abendlande üblich geworden ist, das Gehirn denkt. Und was Moleschott, Büchner und der dicke Vogt behauptet haben als Materialismus, das ist nicht einfach damit widerlegt, daß man sagt, das ist falsch, sondern das ist richtig für die Menschheit, die sich immer mehr und mehr, namentlich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, zum bloßen Materialismus hinwendet. Es ist einfach der abendländische Mensch auf dem Wege, ein Wesen zu werden, das nur noch mit dem physischen Gehirn denkt. Die Propheten dieses physischen Gehirndenkens, Moleschott, Büchner, haben nur verkündet, was aus dem abendländischen Menschen wird. So daß die Materialisten Recht haben mit demjenigen, was sie für den abendländischen Menschen behaupten; es ist nur falsch, wenn sie es für den Menschen überhaupt behaupten. Was sie sagen, ist nur richtig für die Menschen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, aber für diese ist es richtig. Und die Menschen haben sich nun gewöhnt, bloß mit dem Gehirn zu denken; das ist die heute übliche Denkweise. Alles, was in unserer gewöhnlichen Literatur, in unserer ganzen modernen Wissenschaft liegt, ist materielles Denken, ist solches Denken. Da haben die Materialisten schon Recht, und man könnte sagen, daß Büchner, Vogt unkollegial gehandelt hätten gegen ihre materialistischen Kollegen, wenn sie ihnen nachgesagt hätten, daß sie mit dem Geist denken. Das ist ja nicht wahr; sie denken bloß mit dem Gehirn. Da gilt es nicht zu widerlegen, sondern anzuerkennen, daß tatsächlich der Weg zur Materialität nicht bloß eine falsche Weltanschauung ist, sondern etwas, was real wirkt. Deshalb aber sagen diese Menschen auch, wenn so etwas auftritt wie anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft: Diese Gedanken kann man nicht fassen, die kann man nicht begreifen. – Ja, die wollen mit dem Gehirn denken; aber diese Gedanken der Geisteswissenschaft sind mit dem Geistig-Seelischen gedacht, das sich erst losgerissen hat vom Gehirn. Daher müssen die Menschen streben, daß sie durch die Gedanken, die so entstanden sind, selber wieder losreißen ihr Geistig-Seelisches vom Gehirn, indem sie diese Gedanken nachdenken. Die Menschen müssen sich bemühen, die Gedanken nachzudenken, die heute noch bestehende Möglichkeit zu benützen, das Geistig-Seelische loszureißen von dem Materiellen des Gehirns. Denn es ist auf dem Wege, sich an das Materielle des Gehirns zu ketten. Die Menschen müssen sich davon losreißen. Also wir haben es nicht mit einer falschen und richtigen Anschauung zu tun, sondern mit einem Vorgang. Indem die Gedanken der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft der Welt übergeben werden, rechnet man darauf, daß die Menschen, die noch fähig sind, die alten Möglichkeiten des Losreißens in sich zu handhaben, sie wirklich handhaben und die leibfreien Gedanken zu verstehen suchen, damit ihre Seelen leibfrei werden. Also es ist eine Willenssache, Anthroposophie zu verstehen; es ist etwas, was losreißen soll das Geistig-Seelische von dem Physisch-Leiblichen. Daher stehen wir nicht bloß vor der Aufgabe, eine falsche Weltanschauung zu widerlegen, sondern vor der Tatsache, daß ein großer Teil der Menschheit hineinsegeln will, bloß Materie zu werden und aus ihr heraus zu denken, zu wollen und zu empfinden, und daß wir der Welt als Realität übergeben wollen die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, damit Geist und Seele losgerissen werden von der Materie. Die Menschen sollen vor der Möglichkeit bewahrt werden, ihr Geistig-Seelisches zu verlieren, denn dieses Geistig-Seelische steht vor der Gefahr, ganz und gar in das Ahrimanische hineinzusegeln. Die Menschen stehen vor der Gefahr, das Geistig-Seelische zu verlieren und mit dem Materiellen sich zu verlieren als Menschen, wie ich es Ihnen früher schon geschildert habe, daß das Materielle verschwindet.      

Also es handelt sich nicht um die Ersetzung einer alten Erkenntnis durch eine neue, sondern darum, Taterkenntnis zu gewinnen, durch welche die Seele bewahrt wird vor dem Hineinsegeln in die bloße Materialität, vor dem Hineinsegeln des Geistig-Seelischen – wodurch das Ich aufgehoben würde – in das Ahrimanische. –

Anmerkung: Also derjenigen geistigen Macht, die diese Vorgänge bewirkt. –

Also nicht darum handelt es sich, den Materialismus zu widerlegen, sondern darum, die Menschheit zu bewahren davor, daß der Materialismus richtig werde; denn er ist auf dem Wege, eine Richtigkeit, nicht eine Falschheit zu sein. Wenn man von falschem Materialismus spricht, so spricht man heute gar nicht von dem, worauf es ankommt, sondern man muß sprechen davon, daß der Materialismus richtig und richtiger wird und heute in der Kultur mit jedem Tag immer richtiger und richtiger wird. Wir können es schon mit dem Beginn des 3. Jahrtausends erleben, daß die Menschheit sich so entwickelt haben wird, daß der Materialismus die richtige Anschauung ist. Nicht darum handelt es sich, den Materialismus zu widerlegen; denn er ist auf dem Marsche, richtig zu werden, sondern darum, ihn unrichtig zu machen, weil er auf dem Wege ist, eine Tatsache zu werden, weil er nicht eine falsche Theorie bloß ist. 

Diese Dinge möchten jene Menschen verschweigen, welche es den Menschen möglichst bequem machen möchten, indem sie sagen: Seht nur die Falschheit des Materialismus ein! Wendet euch zu einer abstrakten Mystik hin, dann habt ihr alles! – Man kann sich einer solchen abstrakten Mystik hingeben; aber dadurch fördert man den realen Materialismus und nicht den Materialismus als bloße Theorie. Wir haben diesen Materialismus nicht zu überwinden, weil er falsch ist, durch das Wort, das Theorie bleibt, sondern weil er richtig ist und weil wir gerade bekämpfen müssen, daß er als Richtiges dasteht.  Da bekommen die Dinge ein anderes Gesicht, da aber steht man in der Realität der geistigen Welt darin nicht mit Theorien, sondern mit einer Erkenntnis, die im kosmischen Zusammenhang eine Tat ist. Es ist den heutigen Menschen höchst unbequem, diese Dinge anzuhören, doch in diesem Licht müßte eigentlich alles betrachtet werden, was auch im einzelnen geschieht. Wahrhaftig, die alten Kampfmethoden sind verbraucht; alles das, was früher üblich sein konnte, ist verbraucht. Die Dinge müssen im geistigen Licht gesehen werden.