Rudolf Steiner zu der übersinnlichen Natur der Begriffe und Ideen – sowie zu den abstrakten Begriffen als dem ersten Anfang eines neuen Hellsehertums 

 

(GA 146, S. 33)

Dasjenige, was wir heute, selbst wenn wir populäre Wissenschaft treiben, als dem Menschen etwas ganz Natürliches ansehen, unser Denken, unser abstraktes Denken, das war ganz und gar nicht immer bei dem Menschen etwas Selbstverständliches und Natürliches. Es ist gut, wenn man, um so etwas zu charakterisieren, gleich zu den radikalen Fällen seine Zuflucht nimmt. Ihnen allen wird es sonderbar vorkommen, wenn man folgendes sagt: Für Sie alle ist es ein natürliches Faktum, zum Beispiel von einem Fisch zu sprechen. Bei primitiven Völkern ist das ganz und gar nicht ein natürliches Faktum. Primitive Völker kennen wohl Forellen, Lachse, Stockfische, Heringe, aber «Fisch» kennen sie nicht. Sie haben gar nicht das Wort «Fisch», weil sie bis zu solcher Abstraktheit, bis zu solcher Allgemeinheit mit dem Denken gar nicht gehen. Birkenbäume, Kirschenbäume, Orangenbäume, einzelne Bäume kennen sie, aber «Baum» kennen sie nicht. Dasjenige, was uns ganz natürlich ist, das Denken in allgemeinen Begriffen, das ist heute noch bei primitiven Völkern gar nicht etwas Natürliches. 

Wenn man sich dieses Faktum vor Augen führt, dann muss man sich klar sein, dass auch dasjenige, was man im heutigen Sinne «Denken in allgemeinen Begriffen» nennt, dass dieses besondere Denken erst im Laufe der Entwickelung in die Menschheit eingetreten ist. 

Ja, für denjenigen, der ein wenig darüber nachdenkt, warum Logik erst im alten Griechenland entstanden ist, könnte es gar nicht besonders auffällig sein, wenn gesagt wird aus okkulter Erkenntnis heraus, dass logisches Denken eigentlich überhaupt erst seit jener Zeit existiert, die nach der ursprünglichen Abfassung der Bhagavad Gita verflossen ist. Auf logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist gewissermaßen als auf etwas Neues, was jetzt erst in die Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber dieses Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute als etwas ganz Natürliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen, denn man hält gewöhnlich dieses Denken für eine bloße Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der physischen Außenwelt herein. Ganze Bibliotheken von philosophischen Werken sind geschrieben worden in der abendländischen Literatur, um nachzuweisen, dass dieses Denken eigentlich nichts anderes sei als etwas, was durch die physische Außenwelt angeregt entstanden sei. Wir erst leben in der Zeit, wo dieses Denken in der richtigen Weise gewürdigt werden kann. 

Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. Ich möchte wirklich alles versuchen, um gerade über dasjenige, was ich jetzt aussprechen will, Klarheit hervorzurufen. Gewiss, mittelalterliche Alchimisten haben gesagt – und ich kann heute nicht auseinandersetzen, was sie eigentlich damit gemeint haben —, sie haben gesagt, man könne aus allen Metallen Gold machen, Gold in so großer Menge, wie man will, nur muss man zunächst unbedingt ein Winziges an Gold haben. Ohne dass man das hat, kann man kein Gold machen. Aber wenn man ein Winzigstes an Gold hat, kann man beliebige Mengen Goldes machen. – So ist es nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein allgemeiner Glaube ist, dass die Menschen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, dass man etwas Gold haben muss, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muss man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann. 

Nun könnten Sie ja die Alternative aufstellen und sagen: Also glaubst du, dass wir schon alle hellsichtig sind, wenn auch nur ein Winziges, oder dass diejenigen unter uns, die nicht hellsichtig sind, es auch nie werden können? – Sehen Sie, darauf kommt es an, dass man versteht, dass der erste Fall der Alternative richtig ist: Es gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht – wenn er sich dessen auch nicht bewusst ist – diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt wird. 

Verzeihen Sie einen etwas groben Vergleich: Wenn eine Perle am Wege liegt und ein Huhn findet sie, so schätzt das Huhn die Perle nicht besonders. Solche Hühner sind die modernen Menschen zumeist. Sie schätzen die Perle, die ganz offen daliegt, gar nicht, sie schätzen etwas ganz anderes, sie schätzen nämlich ihre Vorstellungen. Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfange an. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozess der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, dass man zunächst verstehen lernt, dass der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz Alltägliches eigentlich ist: man muss nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muss sich klar sein, dass aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt. 

Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. – Heute muss ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch, erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. – Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit», wo ich gezeigt habe, dass die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigem Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern. 

Wir müssen uns aber klar sein, dass in dem Augenblick, wo Krishna vor dem Arjuna steht, er ihm sozusagen zum ersten Male in der ganzen Menschheitsentwickelung den Ausgangspunkt für die Erkenntnis der höheren Welten in der Durchdringung des abstrakten Urteilens gibt. Der Geist kann gesehen werden ganz in der Oberfläche der Verwandlungen innerhalb der äußeren Sinnenwelt. Die Leiber können sterben, der Geist, das Abstrakte, das Wesentliche ist ewig. Ganz in der Oberfläche der Erscheinungen kann das Geistige gesehen werden. Das ist es, was Krishna dem Arjuna als den Anfang eines neuen Hellsehertums des Menschen klarmachen will. 

Für den heutigen Menschen ist eines notwendig, wenn er zu einer innerlich erlebten Wahrheit kommen will. Wenn er wirklich einmal innerlich Wahrheit erleben will, dann muss der Mensch einmal durchgemacht haben das Gefühl der Vergänglichkeit aller äußeren Verwandlungen, dann muss der Mensch die Stimmung der unendlichen Trauer, der unendlichen Tragik und das Frohlocken der Seligkeit zugleich erlebt haben, erlebt haben den Hauch, den Vergänglichkeit aus den Dingen ausströmt. Er muss sein Interesse haben fesseln können an diesen Hauch des Werdens, des Entstehens und der Vergänglichkeit der Sinnenwelt. Dann muss der Mensch, wenn er höchsten Schmerz und höchste Seligkeit an der Außenwelt hat empfinden können, einmal so recht allein gewesen sein, allein gewesen sein nur mit seinen Begriffen und Ideen; dann muss er einmal empfunden haben: Ja, in diesen Begriffen und Ideen, da fassest du doch das Weltengeheimnis, das Weltgeschehen an einem Zipfel – derselbe Ausdruck, den ich einstmals gebraucht habe in meiner «Philosophie der Freiheit». – Aber erleben muss man dieses, nicht bloß verstandesmäßig begreifen, und wenn man es erleben will, erlebt man es in völligster Einsamkeit. 

Und man hat dann noch ein Nebengefühl. Auf der einen Seite erlebt man die Grandiosität der Ideenwelt, die sich ausspannt über das All, auf der anderen Seite erlebt man mit der tiefsten Bitternis, dass man sich trennen muss von Raum und Zeit, wenn man mit seinen Begriffen und Ideen zusammen sein will. Einsamkeit! Man erlebt die frostige Kälte. Und weiter enthüllt sich einem, dass die Ideenwelt sich jetzt wie in einem Punkte zusammengezogen hat, wie in einem Punkte dieser Einsamkeit. Man erlebt: Jetzt bist du mit ihr allein. – Man muss das erleben können. Man erlebt dann das Irrewerden an dieser Ideenwelt, ein Erlebnis, das einen tief aufwühlt in der Seele. Dann erlebt man es, dass man sich sagt: Vielleicht bist du das alles doch nur selber, vielleicht ist an diesen Gesetzen nur wahr, dass es lebt in dem Punkte deiner eigenen Einsamkeit. – Dann erlebt man, ins Unendliche vergrößert, alle Zweifel am Sein. 

Wenn man dieses Erlebnis in seiner Ideenwelt hat, wenn sich aller Zweifel am Sein schmerzlich und bitter abgeladen hat auf die Seele, dann erst ist man im Grunde reif dazu, zu verstehen, wie es doch nicht die unendlichen Räume und die unendlichen Zeiten der physischen Welt sind, die einem die Ideen gegeben haben. Jetzt erst, nach dem bitteren Zweifel, öffnet man sich den Regionen des Spirituellen und weiss, dass der Zweifel berechtigt war, und wie er berechtigt war. Denn er musste berechtigt sein, weil man geglaubt hat, dass die Ideen aus den Zeiten und Räumen in die Seele gekommen seien. Aber was empfindet man jetzt? Als was empfindet man die Ideenwelt, nachdem man sie erlebt hat aus den spirituellen Welten heraus? Jetzt fühlt man sich zum ersten Male inspiriert, jetzt beginnt man, während man früher wie einen Abgrund die unendliche Öde um sich ausgedehnt empfunden hat, jetzt beginnt man sich zu fühlen wie auf einem Felsen stehend, der aus dem Abgrunde emporwächst, und man fühlt sich so, dass man weiß: Jetzt bist du in Verbindung mit den geistigen Welten, diese und nicht die Sinnenwelt haben dich mit der Ideenwelt beschenkt.