Aus Nummer 35 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 108:
Der Mensch strebt eine Erkenntnis der wahrhaftigen Wirklichkeit an. Der erste Schritt für eine ihm mögliche Befriedigung dieses Strebens ist die Einsicht, dass ihm solche Erkenntnis nicht durch Naturbetrachtung und auch nicht durch gewöhnliches, mystisches Innenleben werden kann. Denn zwischen beiden klafft ein Abgrund – wie im Beginne dieser Auseinandersetzungen gezeigt worden ist -, der erst ausgefüllt werden muss. Durch die hier skizzenhaft geschilderte Umwandlung des Bewusstseins wird dieser Abgrund ausgefüllt. Niemand kann zu der angestrebten Erkenntnis der wahrhaften Wirklichkeit gelangen, der nicht erkannt hat, dass zu dieser Erkenntnis die gewöhnlichen Erkenntnismittel nicht ausreichen und dass die zu ihr notwendigen Erkenntnismittel erst ausgebildet werden müssen. Der Mensch fühlt, dass mehr in ihm schlummert, als im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft sein Bewusstsein umfasst. Er verlangt instinktiv nach einer Erkenntnis, welche für dieses Bewusstsein nicht erreichbar ist. Er darf nicht davor zurückschrecken, zur Erlangung dieser Erkenntnis die Kräfte, welche im gewöhnlichen Bewusstsein auf die sinnliche Welt gerichtet sind, so umzuwandeln, dass sie eine übersinnliche Welt ergreifen können. Bevor man die wahre Wirklichkeit ergreifen kann, muss man erst den Seelenzustand herstellen, der auf die übersinnliche Welt Bezug haben kann. Was für das gewöhnliche Bewusstsein erreichbar ist, hängt von der Menschheitsorganisation ab, die im Tode zerfällt. Deshalb ist es begreiflich, dass die Erkenntnis dieses Bewusstseins von dem Übersinnlichen, dem Ewigen in der Menschennatur nichts wissen kann. Erst das verwandelte Bewusstsein schaut in diejenige Welt, in welcher der Mensch als übersinnliches Wesen lebt, als ein Wesen, das von dem Zerfall des sinnlichen Organismus nicht berührt wird.
Das Bekennen zu dem verwandlungsfähigen Bewusstsein und damit zu einer wahren Wirklichkeitsforschung liegt den Denkgewohnheiten der Gegenwart noch fern. Vielleicht ferner, als zu Kopernikus‘ Zeit den Menschen das physische Weltsystem dieses Denkers gelegen hat. Aber so wie dieses den Zugang zu den Menschenseelen durch alle Hemmnisse hindurch gefunden hat, so wird ihn auch die anthroposophische Geisteswissenschaft finden. Sie zu verstehen, wird auch der Philosophie der Gegenwart schwer, weil diese ihren Ursprung aus einer Vorstellungsart herleitet, welche die fruchtbaren Keime einer vorurteilslosen Begriffstechnik, die schon im Aristotelismus liegen, nicht zur Entfaltung bringen konnte. Aus diesem Mangel aber entsprang, wie hier gezeigt worden ist, der andere, dass man sich durch künstliche Begriffsgespinste von der wahren Wirklichkeit, die man zu einem unnahbaren «Ding an sich» machte, abschloss. Durch diese ihre Grundrichtung muss die Philosophie der Gegenwart die Anthroposophie ablehnen. Denn für ihre Begriffe von Wissenschaftlichkeit kann diese Anthroposophie als nichts anderes denn als Dilettantismus erscheinen. Wer die in Betracht kommenden Dinge durchschaut, dem wird nicht unbegreiflich, sondern eigentlich selbstverständlich dieser Vorwurf des Dilettantismus erscheinen. Hier sollte der Quell dieses Vorwurfes dargelegt werden.
Man kann aus dieser Darlegung vielleicht ersehen, was notwendig geschehen muss, bevor die Philosophen dazu kommen werden, einzusehen, dass Anthroposophie nicht Dilettantismus ist. Es ist notwendig, dass die Philosophie mit ihrem Begriffssystem sich zu einem vorurteilslosen Erkennen ihrer eigenen Grundlagen hindurcharbeite. Es verhält sich, was hier in Betracht kommt, nicht so, dass Anthroposophie einer gesunden Philosophie widerspräche, sondern so, dass eine für Wissenschaft geltende neuere Erkenntnistheorie den tieferen Grundlagen einer wahren Philosophie selbst widerspricht. Diese Erkenntnistheorie wandelt in Irrgängen und muss erst aus diesen herauskommen, wenn sie Verständnis für anthroposophisches Weltbegreifen entwickeln will.
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