aus GA 196 S. 66
Dieses innere Verständnissuchen aus den geistigen Grundlagen der Entwickelung heraus, das ist es, was unbedingt angestrebt werden muß von unserer Gegenwart an. Denn eben die alten Zusammenhänge, aus denen die Menschen bisher gearbeitet haben, sind morsch und brüchig geworden. Ein Schneckenhaus hält sich ja auch noch eine Zeitlang, wenn die Schnecke schon tot ist. So hielten sich die alten Staaten, die aus ganz andern Schnecken, aus ganz andern Vorstellungen hervorgegangen sind. Aber notwendig ist es, daß heute neue soziale Gebilde aus dem erneuerten Vorstellungsleben der Menschen heraus sich wirklich entwickeln. Das große Sterben der alten sozialen Gebilde, das im Osten begonnen und Mitteleuropa ergriffen hat, das wird sich schon fortsetzen! Aber gut wäre es, wenn es verstanden würde und wenn die Leute weniger daran denken würden, die alten Reiche aufzurichten, sondern daran denken würden, die realen Verhältnisse der Gegenwart ins Auge zu fassen und aus diesen realen Verhältnissen der Gegenwart heraus entsprechende neue soziale Gebilde zu gestalten.
Im ganzen muß man doch sagen: Geisteswissenschaft stellt an die Menschen die Anforderung, etwas weniger Bequemlichkeit zu entwickeln mit Bezug auf ihre Seelenwesenheit, als die Menschen heute zu haben geneigt sind. Die Menschen sind heute schon so, daß sie gar nicht sich bewußt sind der treibenden Kräfte der Entwickelung, in denen sie drinnenstecken. Es war mir interessant zu sehen, wie ein Mitglied unserer Gesellschaft in der letzten Dreigliederungszeitung über den Stil der «Kernpunkte der sozialen Frage» geschrieben hat. Über diesen Stil der «Kernpunkte der sozialen Frage» haben ja viele allerlei Zeug geschwätzt: Schwer verständlich, Schachtelsätze – und dergleichen. Es ist ganz gut, daß jemand es einmal ausgesprochen hat, daß ja schließlich dieses Buch dazu da ist, um ein Aufruf zu sein an die Menschheitserneuerung, daß es nicht ein Schlafpulver sein soll für diejenigen, die eine angenehme Lektüre haben wollen.
Heute vereinigen die Menschen, indem sie konsequent sein wollen, das Diskrepanteste. Sie können heute unter das sogenannte Volk gehen, das wird eine populäre Darstellung verlangen. Vielleicht die populärste Darstellung werden diejenigen verlangen, die sich am freigeistigsten fühlen. Sie werden einen geschlossenen Stil langweilig finden, diese Leute. Woher kommt denn dieses Streben nach sogenannter populärer Darstellung ? – Wenn die Leute es nur einmal bedenken würden, würden sie von solchen Urteilen, wie man sie oftmals hört, leichter zurückkommen. Denn dasjenige, was heute auch viele kirchenfeindliche Leute als Popularität im Stil fordern, das ist nichts anderes als ein Ergebnis jener Darstellung, welche gewisse Vertreter der Bekenntnisse suchten, um die Leute möglichst dumm zu erhalten. Sie gaben ihnen in den Sonntagnachmittagspredigten möglichst dasjenige, was «wasserklar» ist, was auch für diejenigen wasserklar war, die wachend schlafen wollten bei den Predigten. Die äußerste Grenze des Predigtanhörens ist ja das alte Mütterchen, das immer geschlafen hat bei der Predigt und das man zur Rede gestellt hat. Da sagte sie: Nun, was hat denn der Mensch auf der Welt, wenn er nicht mehr das bißchen Kirchenschlaf hat! – Der Unterschied des Niveaus von diesem Schläfrigkeitszustand bis zur populären Darstellung ist ja nicht sehr groß. Sie ist im wesentlichen dadurch entstanden, daß man die Leute nicht zu einer gewissen freien lebendigen Entwickelung des Denkens kommen lassen wollte. Was sich die Leute angewöhnt haben beim Anhören der Predigten, das fordern heute die kirchenfeindlichen Sozialdemokraten als populäre Darstellung. So sind die Zusammenhänge. Die Leute finden heute den Stil der «Kernpunkte» schwer, die es weit zurückweisen würden, Bekenntnisleute zu sein; aber den Stil schwer finden, das rührt davon her, daß diese Leute erzogen worden sind durch die «Wasserklarheiten» des Sonntagnachmittags-Predigtdienstes. Das ist auch etwas, was sich die Menschen durch Geisteswissenschaft aneignen müssen: unbefangen auf die Ereignisse hinzublicken. Über die Entwickelungsgesetze möchten sich ja die Menschen am liebsten täuschen. Vor allen Dingen Energie im Seelenleben, das ist es, was für die Zukunft der Menschheitsentwickelung im eminentesten Sinne gebraucht wird.
…
Vor allen Dingen müssen wir uns darüber klar sein, daß ein wirkliches Verständnis der sozialen Aufgabe der Gegenwart nur möglich ist vom Geiste aus. Aber dazu ist natürlich vieles andere erst herbeizuschaffen, möchte ich sagen. Da ist auf der einen Seite unsere Wissenschaft, die einer völligen Erneuerung bedarf. Wir können mit der alten Wissenschaft nichts mehr anfangen. Wir müssen die Möglichkeit haben, in den Geist der Natur wirklich einzudringen. Wir müssen die Möglichkeit haben, die Naturwissenschaft, die Medizin, die Biologie im allgemeinen wirklich geistig zu erfassen, dann können wir mit der Erziehung, die durchgemacht wird auf diese Weise, wirklich auch fruchtbare Gedanken entwickeln für das soziale Denken. Sonst werden wir fortfahren, mit den alten Schlagworten Neues schaffen zu wollen. Das aber ist es gerade, was uns so stark in den Abgrund hinunterfuhrt. Aufwärtskommen muß die Menschheit; aber sie muß es aus einer geistigen Erneuerung heraus. Und wer sich nicht entschließen wird, auf das Alte so hinzuschauen, daß es wirklich von ihm als Altes angesehen wird, der wird eben nicht mitarbeiten können am Fortschritt der Menschheit.
Ich habe ja in den verschiedensten Varianten dieses vor Ihnen entwickelt. Ich wollte heute darauf hinweisen, wie eigentlich die Menschheit – was ich ja auch schon öfter auseinandergesetzt habe – in bezug auf ihr Lebensalter immer jünger und jünger wird. Die urindischen Menschen waren bis über die Fünfzigerjahre alt geworden, dann die persischen Menschen bis in die Vierzigerjahre, die ägyptisch-chaldäischen bis zum Ende der Dreißigerjahre, die griechischen Menschen bis in die Dreißigerjahre hinein. Wir werden nicht in dieser Weise alt. Wir trotten noch fort, wenn wir nicht uns geistig innerlich beleben, aber alt werden wir nicht. Denn alt werden hieß in alten Zeitaltern zu gleicher Zeit durch dasjenige, was der Mensch leiblich-physisch heranentwickelte, weiser werden. Die heutigen Menschen werden, indem sie alt werden, bloß alt, werden nicht weiser, sie werden Mumien. Sie werden weiser nur dann, wenn sie die Mumien mit irgend etwas innerlich ausfüllen. Die Ägypter mumifizierten ihre Toten. Die Gegenwartsmenschen haben gar nicht nötig, Mumien erst zu werden, denn sie wandeln schon als Mumien herum und sind nur dann keine Mumien, wenn erfaßt wird in lebendiger, unmittelbarer Gegenwart das Geistige; dann wird die Mumie belebt. Das aber ist für die Menschheit der Gegenwart notwendig, daß die Mumien belebt werden. Sonst haben wir weiter jene Weltenvereinigungen, in denen allerlei Töne aus mumifizierten Menschen kommen. Man nennt diese Vereinigungen «Parteien». Aber das, was von den mumifizierten Menschen gekommen ist, das wurde allmählich zu rein ahrimanischen Stimmen, und die haben die Katastrophe der letzten Jahre herbeigeführt. Das ist die Kehrseite der Sache, das ist das ganz Ernste der Sache. Wenn der Mensch von der Gegenwart an nicht anfängt, seine Mumie mit geistigem Inhalt zu erfüllen, so erfüllt sie sich durch die Einflüsterungen des Ahriman. Dann gehen die Menschenmumien herum, aber aus ihnen sprechen die ahrimanischen Dämonen. Die können nur verhindert werden, die Erde zu bevölkern, wenn die Menschen sich dazu entschließen, ihren lebendigen Zusammenhang mit der Geisteswelt zu suchen. Ja, die Sache hat ihre sehr, sehr ernste Seite. Geisteswissenschaft heute zu treiben ist zu gleicher Zeit ein Austreiben des ahrimanischen Geistes aus der Menschheit, ist ein Verhindern dessen, daß die Menschheit von Ahrimanisch-Geistigem besessen werde.
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