Rudolf Steiner über das Unpolitische der mitteleuropäischen Menschen – Nicht nur das Proletariat, sondern auch die Geschichte fordert, dass in der Zukunft die physische Arbeitskraft nicht mehr Ware sein dürfe. – Ohne ein Parlament des freien Geisteslebens (Kulturrat) wird ganz Mittel- und Osteuropa in den Zustand der Barbarei kommen

 

Aus Nummer 337a der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 94

Nun, sehr verehrte Anwesende, es nützt heute nichts, wenn man nicht auf dem Gebiete der großen Aufgaben, die uns die Gegenwart auferlegt, ganz unbedingt offen und ehrlich redet. Das Wirtschaftsleben hat Formen angenommen, durch die das Proletariat zu einer energischen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen gebracht worden ist. Es ist ja durch die mannigfachsten Umstände durchaus bekannt, daß heute das Proletariat sehr krankt an dem Umstände, daß es mehr oder weniger ein theoretisches Ziel, aber keine Praxis hat. Dennoch, was da lebt im Proletariat, das ist ein bestimmtes Wollen, das ist auch das Ergebnis einer ganz bestimmten politischen Schulung, die durch Jahrzehnte hindurchgegangen ist. Aus diesem Wollen wird sich heute so etwas formen lassen wie zum Beispiel ein Betriebsrat oder eine Betriebsräteschaft aus geistigen und physischen Arbeitern zusammen. Das wird nicht leicht sein, namentlich da es, wenn es nicht schnell geschieht, zu spät werden könnte.

Aber, ich möchte sagen, es ist heute eine mit immer noch weniger furchtbaren Hindernissen kämpfende Arbeit als die Schaffung eines Kulturrats, denn da tritt einem das mannigfachste [an Hindernissen] entgegen. Zum Beispiel gibt es heute Parteiführer, die glauben, sozialistisch, ganz sozialistisch zu denken, gar nicht mehr im Sinne der alten Geisteskultur der bevorzugten Klassen zu denken, und dennoch haben sie nichts anderes als diese Geisteskultur übernommen. Es lebt in ihren Köpfen nichts anderes als die letzte Konsequenz dieser Geisteskultur.

Diese Geisteskultur der leitenden, führenden Kreise, sie kann dadurch charakterisiert werden, dass sie innerhalb der letzten vier Jahrhunderte immer mehr und mehr eingemündet ist in ein solches Verhältnis vom geistigen Leben zum Wirtschaftsleben, dass das geistige Leben eigentlich nurmehr eine Folge des Wirtschaftslebens, eine Art Überbau über das Wirtschaftsleben ist. Aus dieser Erfahrung der letzten drei bis vier Jahrhunderte hat sich nun das Proletariat respektive die proletarische Theorie die Anschauung gebildet, dass das Geistesleben überhaupt nur etwas sein darf, was aus dem Wirtschaftsleben hervorgeht. In dem Augenblick, wo man das praktisch machen würde, dass das Geistesleben nur aus dem Wirtschaftsleben hervorgehen dürfe, in dem Augenblicke legt man den Grundstein zu einer völligen Vernichtung des Geisteslebens, zu einer völligen Vernichtung der Kultur. Das Bürgertum kann heute nicht verlangen, dass das Proletariat auf einem andern Standpunkte steht, als alles Heil vom Wirtschaftsleben zu erwarten – aus dem Grunde, weil das Bürgertum selbst alles zu dem Standpunkte gebracht hat, dass schließlich alles Geistige irgendwie vom Wirtschaftlichen abhängig ist. 

Der Gang der Entwicklung war ein solcher, dass zunächst diejenigen Schäden durch die geschichtliche Entwicklung überwunden wurden, die sich für den Menschen innerhalb der menschlichen Gesellschaft ergeben haben aus der aristokratischen Ordnung heraus. Aus dieser aristokratischen Ordnung heraus haben sich ergeben Rechtsschäden; das Bürgertum kämpfte um Rechte gegenüber demjenigen, was früher aristokratische Ordnung war. Dann hat sich in der geschichtlichen Entwicklung als weiteres ergeben der Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat, das heißt zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Der große Kampf zwischen Bürgertum und Proletariat geht dahin, die Arbeitskraft nicht mehr eine Ware sein zu lassen. So wie die Dinge heute liegen, handelt es sich darum, dass das Proletariat energisch verlangt – und das ist nicht allein eine proletarische Forderung, sondern eine geschichtliche -, dass in der Zukunft die physische Arbeitskraft nicht mehr Ware sein dürfe. Das Bürgertum hat den Liberalismus verlangt, weil es die alten aristokratischen Vorrechte nicht mehr wollte, weil es das Recht nicht mehr zu einer Eroberungs- und Kaufsache machen wollte. Das Proletariat verlangt die Emanzipation der Arbeitskraft vom Warencharakter. Wollen wir nicht etwas übriglassen, was ganz Mittel- und Osteuropa in den Zustand der Barbarei bringen würde, so müssen wir heute noch ein weiteres einsehen. Würde sich heute nicht die Forderung aus dem Proletariat heraus ergeben, mit den geistigen Arbeitern (Management, Ingenieure, Entwickler und so weiter; Anmerkung IH) verständnisvoll zusammenzuarbeiten, dann würde das Proletariat zwar die physische Arbeit des Warencharakters entkleiden, aber die Folge davon wäre, dass in der Zukunft eintreten würde ein Zustand, durch den alle geistige Menschenkraft zur Ware wird. Dieser Zustand darf nicht erreicht werden, darf nicht herbeigeführt werden. Es muss der Ernst der Aufgabe so erfasst werden, dass mit der physischen Arbeit zu gleicher Zeit auch der geistigen, wirklich geistigen Arbeit ihr Recht werde. Die alte Aristokratie hat herbeigeführt die Rechtlosigkeit des Menschen, das alte Bürgertum hat herbeigeführt die Besitzlosigkeit des Proletariats. Wenn die bloß materialistisch-wirtschaftliche Auffassung der proletarischen Frage bliebe, so würde zurückbleiben die Entmenschtheit des Geisteslebens. Vor dieser Gefahr stehen wir, wenn nicht diejenigen, welche Herz und Sinn haben für das Geistesleben, sich auf den Boden stellen, dieses Geistesleben selbst zu befreien. Und dieses Geistesleben kann nur befreit werden, wenn wir von [der Abhängigkeit des] Geisteslebens, das ich ja in der verschiedensten Weise charakterisiert habe, Abschied nehmen und wirklich durch einen ernsthaften Kulturrat eine Neugliederung des Geisteslebens herbeiführen. Da muss aber heute ehrlich und offen gesprochen werden: Das Interesse, das ist auf diesem Boden leider noch viel zu wenig da. Einzusehen, dass eine brennende Frage hier vorliegt, das ist die allernächste, die brennendste Aufgabe. Ein Kulturrat muss entstehen. 

Bei den Versuchen, die wir gemacht haben, unter anderem gestern in einer Sitzung, hat sich nicht gerade sehr Verheißungsvolles ergeben, weil den Menschen noch nicht vor Augen steht, was heute auf dem Spiele steht, wenn wir nicht dazu kommen, die geistige Arbeit auf ihre eigenen Füße zu stellen und sie nicht eine Sklavin des Wirtschafts- oder Staatslebens sein lassen. Es ist daher eine dringende Notwendigkeit, dass in der allernächsten Zeit Herz und Sinn erregt werde gerade für einen Kulturrat. Das Unpolitische unserer mitteleuropäischen Menschen, das sich ja leider in so grässlicher Weise in den letzten vier bis fünf Jahren gezeigt hat, das ist dasjenige, was zu Selbsterkenntnis gerade auf dem geistigen Gebiete führen müsste. Das ist dasjenige, was den Menschen das geistige, das Seelenauge dafür auftun sollte, wie unser Geistesleben bisher nur ein Geistesleben einer kleinen Clique war, darauf berechnet, dass es sich auf dem Boden breiter Massen entwickelte, die nicht teilnehmen konnten an diesem Geistesleben, und dass heute geschaffen werden muss ein Geistesleben, in dem jeder Mensch nicht nur physisch, sondern auch geistig und seelisch ein menschenwürdiges Dasein findet. 

 

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