Rudolf Steiner zur Bedeutung eines freien Geisteslebens und der Abschaffung der staatlichen Oberaufsicht über Universitäten, Gymnasien, Volksschulen für das gesamte soziale Leben

 

 

aus Nr. 189 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite: 150

Es ist so schwer, meine lieben Freunde, den Leuten heute klarzumachen, dass eben ein neues Denken notwendig ist, ein ganz neues, wirklichkeitsfreundliches Denken, und dass die Gesundung unserer Zustände von der menschlichen Neigung für dieses wirklichkeitsbefreundete Denken abhängt. Aber in die Wirklichkeit untertauchen kann kein Denken, das nichts wissen will von der geistigen Welt, denn in aller Wirklichkeit lebt eben die geistige Welt. Und wenn man nichts wissen will von der geistigen Welt, dann kann man heute schon am allerwenigsten in die Wirklichkeit untertauchen, und in der Zukunft wird man es erst recht nicht können. Daher ist schon mit eine Hauptfrage für die Gesundung der heutigen Welt die Hinwendung der Menschheit zur geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Das muss natürlich doch die Grundlage bilden – und das könnte die Grundlage bilden, kann leicht die Grundlage bilden. Sagen Sie nicht immer die oberflächlichen, geschwätzigen Worte, es sei schwer, diese Geisteswissenschaft (Anthroposophie; Anmerkung IH) in die Wirklichkeit überzuführen, weil die Menschen Geisteswissenschaft nicht annehmen wollen. Schaffen Sie die staatliche Oberaufsicht über Universitäten, Gymnasien, Volksschulen ab – und in zehn Jahren ist an die Stelle der heutigen, Menschenseelen ertötenden und verderbenden Wissenschaft die Geisteswissenschaft getreten, wenigstens in ihren notwendigen, elementaren Grundlagen! Denn was heute aus dem emanzipierten Drittel des gesunden sozialen Organismus, aus der geistigen Organisation heraus erwachsen kann, das wird anders ausschauen als dasjenige, was überwacht worden ist von jenem Staate, der nur seine Geistlichen ausbilden wollte, das heißt nur eine Staatstheologie duldete, oder der nur seine Juristen ausbilden wollte, daher eben nur seine Staatsjuristen gelten ließ; von der Medizin gar nicht zu reden, wo es blödsinnig und lächerlich ist, dass eine andere Medizin gelten soll drüben und herüben über die Grenzen von Staat zu Staat, dass nicht dasselbe Wissen heilsam sein soll für die Menschen hier und dort und so weiter.

Ich habe Ihnen öfter betont, für das sozialistische Denken ist alles geistige Leben eine Ideologie. Welches ist denn der tiefere Grund, dass alles geistige Leben für das sozialistische Denken der proletarischen Masse heute eine Ideologie ist? – Weil ja alles Wissen getragen werden soll von einem Äußeren, von dem politischen Staate, weil es nur der Schatten des politischen Staates ist! Es ist ja eine Ideologie. Denn soll das geistige Leben nicht Ideologie sein, so muss es aus seinen eigenen Kräften fortwährend seine Wirklichkeit beweisen, das heißt, es muss eben emanzipiert, auf sich selbst gestellt sein. Das geistige Leben hat seine Wirklichkeit fortwährend zu beweisen, darf nicht eine äußere Stütze haben. Nur ein solches geistiges Leben, das keine äußere Stütze hat, das sich lediglich auf die menschlichen Fähigkeiten gestellt sieht, das sich lediglich aus sich selbst verwaltet, wird in gesunder Weise auch seine Zweigströmungen in den Kapitalismus hineinsenden. Denn die Verwaltung durch Kapitalismus ist auch keine andere als die durch menschliche Fähigkeiten. Machen Sie das geistige Leben an seinem Ursprünge gesund, so wird das geistige Leben auch da gesund, wo es in den Kapitalismus einmündet und das Wirtschaftsleben zu leiten hat.

So hängen die Dinge zusammen, und mit diesem Zusammenhang muss man sich bekanntmachen. Meiden muss man, meine lieben Freunde, all das Denken der heutigen Abstraktlinge, das wirklichkeitsfremde Denken, das einem auf Schritt und Tritt überall entgegenkommt und das unsere heutigen Zustände hervorgerufen hat, von dem unsere heutigen Zustände die Folge sind. Man sieht es heute nur noch nicht ein. Heute fragen die Menschen: Wie muss der Überstaat sein? – und sie denken nach, wie der bisherige Staat war; was er getan hat, das soll auch der Überstaat tun. Aber liegt es nicht viel näher, zu fragen, was dieser Staat unterlassen soll? Nachdem die Staaten zur europäischen Katastrophe geführt haben, liegt es viel näher, zu fragen, was sie unterlassen sollen. Unterlassen sollen sie, sich einzumischen in das geistige Leben, unterlassen sollen sie, Wirtschafter zu sein. Beschränken sollen sie sich auf das bloße politische Gebiet. Heute kann man nicht fragen: Wie wird ein Völkerbund begründet? – und sich zum Muster für dieses Begründen nehmen, was die Staaten getan haben oder tun sollen, sondern es ist besser und heute zeitgemäßer zu fragen, was die Staaten unterlassen sollen.

Wenig noch sind die Menschen geneigt, auf diese Dinge wirklich einzugehen. Aber das Schicksal der Menschheit unserer Zeit wird davon abhängen, ob man auf diese Dinge eingeht. Ich habe Ihnen heute, ich möchte sagen, einleitungsweise über diese Dinge gesprochen. Ich werde morgen darüber weitersprechen.