Rudolf Steiner: Europa ist auseinandergefallen wie ein alter Schrank

 

(GA 196 S. 118) 

Geisteswissenschaft, wirkliche Erkenntnis des Geistes ist heute der Menschheit notwendig. Ohnmächtig waren die Leute vor fünfzig Jahren, so habe ich am Anfang meiner heutigen Betrachtung gesagt, ihren Ideal-Realismus mit irgend etwas auszufüllen, das Wirklichkeit gehabt hätte. Daher das Hineinsegeln in das europäische Unglück. Aber heute entsteht die Frage: Wollen diejenigen, die ein neues Unglück abwenden können, da wo Geisteswissenschaft heute spricht, wiederum so weiterleben, wie diejenigen, zu denen Geisteswissenschaft noch nicht gesprochen hat, vor fünfzig Jahren leben mußten ? – Dann allerdings werden Erdenkatastrophen kommen, gegen die das, was jetzt geschehen ist, eine Kleinigkeit ist. Es geht heute nicht an, anderes als dieses sich zu sagen. Wenn die Menschen vor fünfzig Jahren ein neues Geistesleben gefordert haben, so haben sie es nicht schaffen können, weil dazumal noch nicht die Zeit dazu gekommen war. Heute ist die Zeit dazu gekommen. Heute heißt, sich nicht hinwenden zu wollen zu diesem Geistesleben: es nicht ehrlich meinen mit der Menschheitsentwickelung! – Das ist die Verantwortlichkeit, von der ich sprechen muß, von der heute gesprochen werden muß, namentlich nach denjenigen Seiten hin, die heute diese Verantwortung übernehmen können aus den schon angeführten Gründen. Der Mensch muß heute auf den Horizont der weltgeschichtlichen Betrachtung hinschauen. Er kann nicht sein Dasein zurückschrauben. Denken Sie sich, Sie haben einen Schrank. Der Schrank bricht auseinander. Sie haben seine Stücke vor sich, Sie schauen sich das an. Durch irgendein Elementarereignis ist der Schrank auseinandergebrochen, Sie haben seine Stücke vor sich. Was machen Sie? Sie nehmen die Stücke, nehmen Nägel, fügen die Stücke zusammen, damit daraus wieder der alte Schrank entstehe. Der wird aber sehr bald wiederum auseinanderfallen, wenn die Stücke morsch sind, wenn die Nägel nicht mehr halten können oder wenn die Stücke an andern Stellen zerrissen sind. Europa ist auseinandergefallen wie ein alter Schrank: Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Serbien, Deutsch-Österreich, das ehemalige Deutschland, das ehemalige Rußland, die Ukraine – das sind die Stücke, die Trümmer des Schrankes. Und die Westmächte bemühen sich, diese morsch gewordenen Trümmer des Schrankes wiederum zusammenzuschlagen mit Nägeln, die nicht halten werden. Die Menschen sehen nicht ein, daß sie es mit morsch gewordenen Stücken zu tun haben. Da soll das Alte geleimt werden, während es sich darum handelt, ganz neue Substanz in die Menschheitsentwickelung hineinzubringen. Das ist der Gedanke, um den es sich handelt. Auf diesen Gedanken kann uns heute nur Geisteswissenschaft in durchdringender Weise aufmerksam machen. Und die Frage ist: Soll denn die Welt, nachdem das, was heute Europa ergriffen hat, was sehr bald Asien und über Europa hinaus Amerika ergreifen wird, bloß aus ihren alten morschen Stücken zusammengeleimt und zusammengenagelt werden um der Bequemlichkeit der Menschheit willen, oder soll der Zusammenhang gesucht werden zu einer Erneuerung des ganzen Menschenwesens aus dem Geistigen heraus? 

 

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