Rudolf Steiner: Erkenntnisgrenzen ergeben sich in großer Menge auf den Wegen, die das Nachdenken einschlagen muß, um in ein Verhältnis zur wahren Wirklichkeit zu kommen

(GA 21 S. 20) 

Wer sich dem Nachdenken über die durch die Sinnes-Erscheinungen bewirkten Erlebnisse hingibt, der stößt überall auf Fragen, zu deren Beantwortung ihm dieses Nachdenken zunächst unzulänglich erscheint. Im Verfolg solchen Nachdenkens kommen die Vertreter der Anthropologie zur Festlegung von Erkenntnisgrenzen. Es braucht nur daran erinnert zu werden, wie Du Bois-Reymond in seiner Rede über die Grenzen des Naturerkennens davon spricht, daß man nicht wissen könne, welches das Wesen der Materie ist, und welches dasjenige der einfachsten Bewußtseinserscheinung. Man kann nun an solchen Punkten des Nachdenkens stehen bleiben und sich der Meinung hingeben: da liegen eben für den Menschen unübersteigliche Erkenntnisschranken. Und man kann demgemäß sich dabei beruhigen, daß der Mensch nur innerhalb des von diesen Schranken umschlossenen Gebietes ein Wissen erlangen könne und darüber hinaus nur ein Ahnen, Fühlen, Hoffen, Wünschen möglich sei, mit denen eine «Wissenschaft » nichts zu tun haben könne. – Oder man kann in diesem Punkte anheben, Hypothesen auszubilden über ein Gebiet, das über das Sinnlich-Wahrnehmbare hinausliegt. 

Man bedient sich in einem solchen Falle des Verstandes, von dem man glaubt, daß er seine Urteile über ein Gebiet ausdehnen dürfe, von dem die Sinne nichts wahrnehmen. Man wird sich mit einem solchen Verfahren der Gefahr aussetzen, daß der in dieser Beziehung Ungläubige erwidert, der Verstand habe keine Berechtigung, über eine Wirklichkeit zu urteilen, für die ihm die Grundlage der Sinneswahrnehmungen entzogen ist. Denn diese allein gäben seinen Urteilen einen Inhalt. Ohne einen solchen Inhalt blieben seine Begriffe leer. 

Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft verhält sich nicht in der einen und nicht in der andern dieser beiden Arten zu den «Erkenntnisgrenzen». In der zweiten nicht, weil sie mit denjenigen der gleichen Ansicht sein muß, welche empfinden, daß man gewissermaßen allen Boden für das Nachdenken verliert, wenn man die Vorstellungen so beläßt, wie man sie an den Sinneswahrnehmungen gewonnen hat, und sie doch über dieses Gebiet hinaus anwenden will. – In der ersten Art nicht, weil sie gewahr wird, daß sich an den sogenannten Grenzen des Erkennens etwas seelisch erleben läßt, das mit dem aus der Sinneswahrnehmung gewonnenen Vorstellungs-Inhalt nichts zu tun hat. Wenn die Seele nur diesen Inhalt sich vergegenwärtigt, dann muß sie bei wahrer Selbstbesinnung sich sagen: dieser Inhalt kann unmittelbar nicht etwas anderes dem Erkennen offenbaren als eine Nachbildung des sinnlich Erlebten. Anders wird die Sache, wenn die Seele dazu übergeht, sich zu fragen: was läßt sich in ihr selbst erfahren, wenn sie mit solchen Vorstellungen sich erfüllt, zu denen sie an den gewöhnlichen Erkenntnisgrenzen geführt wird? Sie kann sich dann bei entsprechender Selbstbesinnung sagen: erkennen im gewöhnlichen Sinne kann ich mit solchen Vorstellungen nichts; aber in dem Falle, in dem ich mir diese Ohnmacht des Erkennens recht innerlich anschaulich mache, werde ich gewahr, wie diese Vorstellungen in mir selbst wirken. Als gewöhnliche Erkenntnisvorstellungen bleiben sie stumm; aber in eben dem Maße, als sich ihre Stummheit dem Bewußtsein immer mehr mitteilt, gewinnen sie ein eigenes inneres Leben, das mit dem Leben der Seele eine Einheit wird. Und die Seele bemerkt dann, wie sie mit diesem Erleben in einer Lage ist, die sich etwa mit der Lage eines blinden Wesens vergleichen läßt, das auch noch keine besondere Ausbildung seines Tastsinnes erfahren hat. Ein solches Wesen würde zunächst überall hin anstoßen. Es würde den Widerstand der äußeren Wirklichkeiten empfinden. Und aus dieser allgemeinen Empfindung könnte sich ein inneres Leben entwickeln, erfüllt von einem primitiven Bewußtsein, das nicht mehr bloß die allgemeine Empfindung hat: ich stoße an Dinge, sondern das diese Empfindung in sich vermannigfaltigt und Härte von Weichheit, Glätte von Rauhigkeit usw. unterscheidet. – In dieser Art kann die Seele das Erlebnis in sich erfahren und vermannigfaltigen, das sie mit der an den Erkenntnisgrenzen gebildeten Vorstellungen hat. Sie lernt erfahren, daß diese Grenzen nichts anderes darstellen als dasjenige, was entsteht, wenn sie von der geistigen Welt seelisch berührt wird. Das Gewahrwerden solcher Grenzen wird der Seele zu einem Erlebnis, das sich vergleichen läßt mit dem Tast-Erlebnis auf dem sinnlichen Gebiete.  

Anmerkung RS: Erkenntnisgrenzen wie die oben besprochenen treten nicht bloß in der geringen Zahl auf, in der sie manchem zum Bewußtsein kommen; sie ergeben sich in großer Menge auf den Wegen, die das Nachdenken durch sein inneres Wesen einschlagen muß, um in ein Verhältnis zur wahren Wirklichkeit zu kommen. Man vergleiche dazu in dem letzten Abschnitt «Skizzenhafte Erweiterungen des Inhaltes dieser Schrift» das Kapitel: « Das Auftreten der Erkenntnisgrenzen.» 

Was sie vorher als Grenze des Erkennens bezeichnet hat, in dem sieht sie nunmehr die geistig-seelische Berührung durch eine geistige Welt. Und aus dem besonnenen Erleben, das sie mit den verschiedenen Grenzvorstellungen haben kann, besondert sich ihr die allgemeine Empfindung einer geistigen Welt zu einem mannigfaltigen Wahrnehmen derselben. Auf solche Art wird die gewissermaßen niedrigste Art der Wahrnehmbarkeit der geistigen Welt zum Erlebnis. Es ist damit nur das erste Aufschließen der Seele für die geistige Welt gekennzeichnet. Aber es ist auch gezeigt, daß in demjenigen, was die von mir gemeinte Anthroposophie als geistige Erlebnisse anstrebt, nicht auf allgemeine nebulose gefühlsmäßige Selbsterlebnisse der Seele gedeutet wird, sondern auf etwas, das in gesetzmäßiger Art in einem wirklichen inneren Erleben entwickelt wird. Es kann hier nicht der Ort sein, zu zeigen, wie die erste primitive Geist-Wahrnehmung durch weitere seelische Verrichtungen gesteigert wird, so daß, wie von einem geistig-seelischen Tasten, auch von anderen gewissermaßen höheren Wahrnehmungsarten gesprochen werden kann. Es muß bezüglich der Schilderung solcher seelischer Verrichtungen auf meine anthroposophischen Bücher und Aufsätze verwiesen werden. Hier sollte nur das Prinzipielle angedeutet werden über die geistige Wahrnehmung, von welcher die Anthroposophie spricht.

Rudolf Steiners Anmerkungen zum Auftreten der «Erkenntnisgrenzen», zu obigen Ausführungen

GA 21 S.  135 

2. Das Auftreten der «Erkenntnisgrenzen» Zu Seite 22

Bei den Denkern, welche mit voller Kraft nach einem Verhältnis zur wahren Wirklichkeit streben, wie ein solches durch die innere Natur des Menschen gefordert wird, findet man in großer Menge die auf Seite 22 ff. dieser Schrift besprochenen Erkenntnisgrenzen besprochen; und man kann, wenn man die Art dieser Besprechungen ins Auge faßt, sehr wohl bemerken, wie der Anstoß, den echte Denker an solchen «Grenzen» erleben, zu der Richtung von innerer Seelenerfahrung drängt, von welcher im ersten Abschnitt dieser Schrift die Rede ist. Man sehe, wie der geistvolle Friedrich Theodor Vischer in dem gehaltvollen Aufsatz (s. S. 77), den er über Johannes Volkelts Buch die «Traumphantasie » geschrieben hat, das Erkenntnis-Erlebnis schildert, das er an solch einer Grenze empfand: «Kein Geist, wo kein Nerven-Zentrum, wo kein Gehirn, sagen die Gegner. Kein Nerven-Zentrum, kein Gehirn, sagen wir, wenn es nicht von unten auf unzähligen Stufen vorbereitet wäre; es ist leicht, spöttlich von einem Umrumoren des Geistes in Granit und Kalk zu reden, – nicht schwerer, als es uns wäre, spottweise zu fragen, wie sich das Eiweiß im Gehirn zu Ideen aufschwinge. Der menschlichen Erkenntnis schwindet die Messung der Stufenunterschiede. Es wird Geheimnis bleiben, wie es kommt und zugeht, daß die Natur, unter welcher doch der Geist schlummern muß, als so vollkommener Gegenschlag des Geistes dasteht, daß wir uns Beulen daran stoßen; es ist eine Diremtion von solchem Schein der Absolutheit, daß mit Hegels Anderssein und Außersichsein, so geistreich die Formel, doch so gut wie nichts gesagt, die Schroffheit der scheinbaren Scheidewand einfach verdeckt ist. Die richtige Anerkennung der Schneide und des Stoßes in diesem Gegenschlag findet man bei Fichte, aber keine Erklärung dafür» (vergleiche Friedr.Theodor Vischer: «Altes und Neues», 1881, Erste Abteilung Seite zzyf.). Friedrich Theodor Vischer weist scharf auf einen solchen Punkt hin, wie diejenigen sind, auf die auch Anthroposophie verweisen muß. Doch ihm kommt nicht zum Bewußtsein, daß in einem solchen Grenzorte des Erkennens eine andere Form des Erkennens eintreten kann. Er möchte mit derselben Art des Erkennens auch an diesen Grenzen leben, mit der er vor denselben auskommt. Anthroposophie versucht zu zeigen, daß Wissenschaft nicht aufhört, wo sich das gewöhnliche Erkennen «Beulen» schlägt, wo dieses «Schneiden» und «Stöße» im Gegenschlag der Wirklichkeit findet; sondern daß die Erlebnisse infolge dieser «Beulen», «Schneiden und Stöße» zur Entwickelung eines andersartigen Erkennens führen, welches den Gegenstoß der Wirklichkeit zur Geistwahrnehmung umbildet, die sich zunächst, auf ihrer ersten Stufe, mit der Tastwahrnehmung des Sinnengebietes vergleichen läßt. – Im dritten Teil von «Altes und Neues» (Seite 224) sagt Friedrich Theodor Vischer: «Gut, eine Seele neben dem Körper gibt es nicht (Vischer meint für den Materialisten); ebendas, was wir Materie nennen, wird also auf der uns bekannten höchsten Stufe seiner Formung, im Gehirn, zu Seele und die Seele entwickelt sich zu Geist. Es gilt, einen Begriff zu vollziehen, der für den trennenden Verstand ein reiner Widerspruch ist.» Gegenüber der Vischer sehen Ausführung muß wieder die Anthroposophie sagen: Gut, für den trennenden Verstand liegt ein Widerspruch vor; aber für die Seele wird der Widerspruch zum Ausgangspunkt eines Erkennens, vor dem der trennende Verstand Halt macht, weil er den «Gegenschlag» der geistigen Wirklichkeit erlebt. 

Gideon Spicker, der außer einer Reihe scharfsinniger Schriften auch (1910) das «Philosophische Bekenntnis eines ehemaligen Kapuziners» geschrieben hat, weist mit Worten, die wahrlich eindringlich genug sind, auf einen der Grenzpunkte des gewöhnlichen Erkennens hin (siehe Seite 30 dieses Bekenntnisses): «Zu welcher Philosophie man sich bekenne: ob zur dogmatischen oder skeptischen, empirischen oder transzendentalen, kritischen oder eklektischen: alle ohne Ausnahme gehen von einem unbewiesenen und unbeweisbaren Satz aus, nämlich von der Notwendigkeit des Denkens. Hinter diese Notwendigkeit kommt keine Untersuchung, so tief sie auch schürfen mag, jemals zurück. Sie muß unbedingt angenommen werden und läßt sich durch nichts begründen; jeder Versuch, ihre Richtigkeit beweisen zu wollen, setzt sie immer schon voraus. Unter ihr gähnt ein bodenloser Abgrund, eine schauerliche, von keinem Lichtstrahl erhellte Finsternis. Wir wissen also nicht, woher sie kommt, noch auch wohin sie führt. Ob ein gnädiger Gott oder ein böser Dämon sie in die Vernunft gelegt, beides ist ungewiß.» Also auch die Betrachtung des Denkens selbst führt den Denker an einen Grenzort des gewöhnlichen Erkennens. Anthroposophie setzt mit ihrem Erkennen an dem Grenzorte ein; sie weiß, vor der Kunst des verstandesmäßigen Denkens steht die Notwendigkeit wie eine undurchdringliche Wand. Für das erlebte Denken schwindet die Undurchdringlichkeit der Wand; dieses erlebte Denken findet ein Licht, um die «von keinem Lichtstrahl» des nur verstandmäßigen Denkens «erhellte Finsternis » schauend zu erhellen; und der «bodenlose Abgrund »ist ein solcher nur für das Reich des Sinnenseins ; wer an diesem Abgrund nicht stehen bleibt, sondern das Wagnis unternimmt, mit dem Denken auch dann weiter zu schreiten, wenn dieses ablegen muß, was ihm die Sinneswelt eingefügt hat, der findet in «dem bodenlosen Abgrund» die geistige Wirklichkeit. 

Und so könnte fortgefahren werden, ohne absehbares Ende, in der Aufzeigung der Erlebnisse, welche ernste Denker an den «Erkenntnisgrenzen» haben. – Man würde aus solcher Aufzeigung ersehen, daß Anthroposophie als sachgemäßes Ergebnis der Gedanken-Entwickelung der neueren Zeit sich einstellt. Vieles weist auf sie hin, wenn dieses Viele in rechtem Lichte gesehen wird.

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