Rudolf Steiner empfiehlt die „lebendigen Begriffe“ der „Philosophie der Freiheit“ zur Meditation

 

(GA 67 S. 311) 

Nehmen Sie es nicht als eine Albernheit oder als Renommiererei, wenn ich ein eigenes Erlebnis meiner allerjüngsten Tage hier anführe. Ich will ein eigenes Erlebnis anführen, das sehr einfach scheint, wenn es erlebt wird, das mir aber neuerdings wieder etwas innerlich Erschütterndes war. Ich habe im Jahre 1894 ein Buch abgeschlossen, in welchem ich rein philosophisch darauf aufmerksam gemacht habe, wie das menschliche Denken schon ein Geistiges ist: meine «Philosophie der Freiheit». Ich war, als ich das Buch schrieb, ein junger Mensch von dreiunddreißig Jahren. In dieser jüngst verflossenen Zeit hat sich nun die Notwendigkeit ergeben, dieses Buch für eine Neuausgabe von neuem durchzuarbeiten, wiederum alles durchzumachen, was damals durch meine Seele gezogen ist, und dabei zugleich zu beobachten, wie sich die Ich-Erlebnisse von jetzt zu den ganz gleichen Ich-Erlebnissen von dazumal verhalten. Wenn man es dazu bringt, zu sehen, wie an dem Wiederdurchmachen des verflossenen Erlebnisses und an diesem Zusammenkommen mit dem wiedererstandenen Erlebnis etwas ähnliches zeitlich eintritt wie sonst beim Erwachen – eine Beobachtung, die für die meisten Menschen vorüberläuft, die sich an frühere Erlebnisse einfach erinnern und nicht hinschauen können auf alles, was da wiederum wird – dann kann man gerade an einem solchen Beispiel sehen, wie das Ich angefacht wird geradeso, wie an der Leiblichkeit im Erwachen, indem es mit etwas, was im Zeitenstrome von ihm vorhanden war, wieder zusammentrifft, darauf aufstößt. Wer das nicht beobachten kann, der ermißt gar nicht, was man erlebt, wenn man das Ich nicht im Strom des Räumlichen darinnenstehend hat, sondern wenn man gezwungen ist, es in Gemäßheit der in der „Philosophie der Freiheit“ entwickelten Vorstellungen zu denken, die ja viele Menschen „Abstraktionen“ nennen; ich nenne sie die konkretesten, lebendigsten Vorstellungen, weil die „Philosophie der Freiheit“ ja lauter lebendige Begriffe entwickelt. Es ist das vorhanden, was ich nennen möchte das Erleben des Ich in bezug auf die Wechselwirkung des einen Zeitpunktes mit dem anderen. Da beginnt das, was bildhaft genannt werden kann der Übergang zu dem innerlichen musikalischen Erleben der Welt. Es ist, wenn ich es damit vergleichen darf, wie wenn Sie einen Ton einer Melodie in Wechselverhältnis setzen würden zu den anderen Tönen der Melodie, wenn also nicht bloß das entsteht, daß der Ton gewissermaßen die Luft erschüttert, sich an dem Räumlichen erfährt, sondern wenn ein Ton mit dem andern in Wechselwirkung tritt. Anders ist es eigentlich unmöglich, das innere Weben und Leben dieses zunächst höchsten Gliedes der menschlichen Wesenheit ins innere geistige Auge zu fassen, als dadurch, daß man übergeht zu einem solchen musikalischen Erlebnis des einen Zeitpunktes durch den andern. 

Dadurch gliedert sich also die gesamte menschliche Wesenheit in 1. den physischen Leib, 2. den Bildekräfteleib, den ich charakterisiert habe als das, was im Gedächtnis wirkt, das wie ein unterbewußtes Wissen den Bildekräfteleib durchgeistigt, 3. das eigentlich Seelische, den astralischen Leib, und 4. das Ich. Dann haben wir versucht, indem wir so den Menschen verfolgten von der untersten sinnlichen Grenze des Körperlichen bis herauf zu dem, was als Geistigstes am Menschen auftritt, zu dem eigentlichen Übersinnlichen zu blicken, und damit hat man erst den ganzen, vollen Menschen vor sich. Damit hat man aber auch den Hinweis gegeben auf die Art und Weise, wie erlebt werden muß, damit das wirklich Dauernde im Menschen unmittelbar innerlich angeschaut werden kann. Da nutzt nicht irgendeine Ausdeutung, irgendeine philosophische Zergliederung des gewöhnlichen Ich; da muß dieses Ich in eine andere Sphäre hineingetragen werden, muß unter ganz anderen Bedingungen neu erlebt werden. Dieses Ich, das man auf diese Weise erlebt, ist zu gleicher Zeit erlebt als ein von der räumlichen Körperlichkeit unabhängiges Ich, und es schwingt sich nach und nach, indem es seine Übungen fortsetzt, dazu auf, überhaupt im Zeitenstrome wahrnehmen zu können, dasjenige wahrnehmen zu können, was im Menschen nur zeitlich, nicht räumlich lebt. 

Wenn ich für die, welche von solchen Dingen etwas wissen, das einfügen darf: Man hat in der Philosophie der Gegenwart darauf aufmerksam gemacht, daß man an das Seelische nicht herankommt, wenn man es substantiell greifen will, sondern erst dann, wenn man es als einen Durchgang durch einen Prozeß nimmt. Besonders hat Wundt darauf aufmerksam gemacht. Allein Wundt hat eben abstrakt darauf hingewiesen, daß man an das Seelische nicht herankommt, wenn man es als Substanz betrachtet, sondern daß man es im lebendigen Prozeß zu sehen hat. Aber es handelt sich nicht darum, es sich nur im seelischen Prozeß durch abstrakte Begriffe zu vergegenwärtigen, sondern mit dem eigenen Ich unterzutauchen in den seelischen Prozeß und diesen Prozeß mitzuerleben. Dann tritt nach und nach das auf, was es möglich macht, diesen seelischen Prozeß auch über diejenigen Zeiten hinüber zu verfolgen, in denen er eingespannt ist in das Räumlich-Körperliche. Hat man einmal gelernt, das Erleben des einen Zeitmomentes zusammenstoßen zu lassen mit dem andern Zeitmoment, dann kann man auch allmählich in sich die Fähigkeit heranentwickeln, das innere Erleben des Ich überhaupt anstoßen zu lassen an den Zeitenstrom, wo das Räumlich-Körperhafte erst entstanden ist in der Vererbungsströmung. Dann erweitert sich der Zeitenstrom über das Räumlich-Körperhafte hinaus, dann schaut man in dem Zeitenstrome, in welchem das Ich webt, in das vorgeburtliche Leben und in das Leben nach dem Tode in einer gewissen Weise hinein. Dann tritt für eine neuere Erkenntnis das auf, was ich oftmals schon mit einem gewissen Bilde zu vergleichen versuchte. Dem, der das durchmacht, was ich jetzt prinzipiell beschrieben habe, dem ereignet sich innerlich etwas, was sich vergleichen läßt mit dem Erlebnis, das wohl Giordano Bruno gehabt haben mag, als er im Beginne der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise stand und diese geltend machte. Im wesentlichen haben die Menschen bis Giordano Bruno in den Weltenraum hinausgeschaut, haben das blaue Firmament gesehen und es für eine wirklich gegenständliche Grenze des Raumes gehalten. Es war bedeutungsvoll, daß in Giordano Brunos Seele zuerst die Vorstellung auftauchte: Da ist eigentlich gar nichts; nur unsere Anschauung, nur die Bedingungen unseres sinnlichen Anschauens machen es, daß wir dort eine blaue Schale sehen; in Wahrheit geht es in die Unendlichkeit hinaus, und wo das blaue Firmament uns erscheint, ist nur eine Grenze unseres Anschauens. Das gilt auch für das Zeitliche. Geburt oder Empfängnis und Tod werden für das zeitliche Firmament, in das wir hinausschauen, die Grenze, die uns durch unsere sinnliche Organisation gesetzt ist. Was wir als unsere Welt erblicken, in der wir leben und weben mit unserem Ich, mit unserem übersinnlichen Menschen, das liegt über dieses zeitliche Firmament über den Tod auf der einen Seite, über Geburt oder Empfängnis auf der anderen Seite hinaus. Und heute stehen wir vor diesem Ruck des menschlichen Wissens nach vorn, wo in ähnlicher Weise wie vor Jahrhunderten für das menschliche Vorstellungsvermögen die Illusion des blauen Himmelsgewölbes hinweggerückt wurde, für die menschliche Anschauung die Illusion hinweggerückt wird, daß Geburt und Tod Grenzen seien, über die man nicht hinauskommen könne. 

Dieser Sprung muß gemacht werden. Dann eröffnet er dem Menschen die Aussicht in das wirkliche Leben seiner übersinnlichen Wesenheit. Dabei muß aber scharf ins Auge gefaßt werden: Wer in der hier geschilderten Art ein Geistesforscher werden will, der muß mit höchster kritischer Selbstbeobachtung immer ins Auge fassen können, was ihn abhalten könnte von dem objektiven Hineinkommen in diese geistige Welt. Sehr leicht kann er davon abgehalten werden. Das Hinschimmern und Hinschweben im Hingeflossensein in die Welt habe ich schon geschildert; das darf natürlich nicht in die Vorbereitung zur Geistesforschung hineinkommen. Aber es ist natürlich gut, möglichst nicht das Gefühls- und Emotionsleben in Anspruch nehmende Vorstellungen für das Meditieren, für die übenden Vorbereitungen des Seelenlebens zu verwenden. Wer Vorstellungen, die ihn sehr stark erregen, zur Kontemplation, zur Meditation verwendet, der wird sehr leicht in die Täuschung kommen. Daher wird zur Vorbereitung namentlich zu vermeiden sein, daß religiöse Impulse in die Übungen hineingetragen werden. Religiöse Impulse, die den Menschen stark erregen, stark in sein Gefühls- und Interessenleben hineinwirken, müssen ausgeschlossen sein. Und sonderbarerweise – es wird ja manchem wenig recht sein – sind diejenigen Vorstellungen die allerbesten, die uns in bezug auf unser Emotions- und Gefühlsleben am allerruhigsten lassen. Wenn man sich in der Mathematik in ähnliche Vorstellungen hineinversenkt, besonders in solche, die bewegliches Leben in die Geometrie hineinführen, wo die Figuren verschiedene Gestalten annehmen können, oder in solche Vorstellungen, wie ich sie mit idealem Gehalt in der «Philosophie der Freiheit» hingestellt habe, dann ist das wohl etwas, was uns auf diesem Gebiete weiterbringen kann. Damit soll durchaus nicht gesagt werden, daß geisteswissenschaftliche Forschung mit dem religiösen Leben nichts zu tun hat. Aber es handelt sich darum, daß man zu jener religiösen Verinnerlichung und Vertiefung, zu der gerade Geisteswissenschaft auch die Vorbereitung sein kann, am besten dadurch kommt, daß man nicht gleich davon ausgeht, sondern mit möglichst unemotionellen und uninteressierten Vorstellungen sich auf den Weg des Forschens begibt, und dann, wenn man in der geistigen Welt darinnen ist, kommt einem aus dieser heraus die Anschauung, die schon eine mächtige Hilfe gerade zur religiösen Vertiefung darstellen kann. So sind für diesen Gang des Geistesforschers ganz besonders ins Auge zu fassen Vorstellungen, die nicht zusammenhängen mit den Bekümmernissen und Besorgnissen des Lebens, die die Seele nicht so sehr erregen, besonders Vorstellungen, die leicht überschaubar sind. Das sind aber niemals die Vorstellungen, die uns leicht erregen, denn da tritt alles mögliche aus dem Unterbewußten in die Seele herein. Dieses Unterbewußte muß aber vor allem ausgeschlossen werden. Auf diese Weise dringt man tatsächlich in ein geistiges Erleben hinein, wo man erst jenes Wesen im Menschen finden kann, von dem zu sagen ist: es lebt in der Freiheit des Willens, es lebt in dem unsterblichen Seelenwesen. Jeder Mensch trägt es in sich. Aber gefunden werden kann es erkenntnismäßig nur auf solchen Wegen, wie es geschildert worden ist. 

  

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