Rudolf Steiner: Der Staat kann nicht christlich sein

 

von Rudolf Steiner 

 

Aus Nr. 197 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 177ff:

Im 18. Jahrhundert gingen schon einigen, wenigstens radikalen Geistern einige Lichter auf über dasjenige, was sich da allmählich vorbereitete. Das 19. Jahrhundert hat dann die Ereignisse gebracht und großartige Verwirrungen angerichtet. Pierre Bayle hat im 18. Jahrhundert ein merkwürdiges Wort ausgesprochen. Er war einer der Materialisten des 18. Jahrhunderts, die aber schon die richtigen Vorläufer des Materialismus des 19. Jahrhunderts waren. Dieser Pierre Bayle hat das Wort ausgesprochen: In den Staaten werden Ehre und Schande herrschen, Ehrgeiz und Egoismus und so weiter, aber es kann keinen Staat geben, in dem christliche Seelenverfassung wirksam ist; es kann einen Staat geben, in dem die alten heidnischen Tugenden und Untugenden herrschen, aber es kann keinen christlichen Staat geben. – So sagt Pierre Bayle, der radikale Materialist, und er hatte mehr Recht als irgendeiner der idealistischen Geister des 19. Jahrhunderts, denn diese idealistischen Geister machten sich vor, dass Staaten christlich seien. Sie waren es ja nicht in Wirklichkeit. Studieren Sie das Christentum des Mittelalters, dasjenige Christentum, das zunächst Pierre Bayle meint. Das beruhte darauf, dass man die Erde eigentlich verneinte, dass man die Tugend darin sah, sich zu einem Leben zu erheben, das nicht irdisch war. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein Leben, das vorzugsweise das Irdische pflegen wollte. Einen christlichen Staat kann es nicht geben, sagte Pierre Bayle, und eigentlich sagte er die Wahrheit. Und im 19. Jahrhundert und im Beginn des 20. Jahrhunderts sagte man die Lüge, indem man sich selber und den andern Menschen weismachen wollte, es könnte dasjenige, was allmählich als moderne Staaten entstanden ist, durchchristet sein. Das können sie eben nicht sein. Aber etwas anderes entstand dadurch: Man war davon durchdrungen, wenn man auf der Kanzel stand, oder wenn man anhörte, was von der Kanzel heruntertönte, dass man recht christlich sei. Oder wiederum, wenn man in sein Amt ging, oder seine Orden anlegte, oder sich seiner Titel bediente, die einem der Staat gegeben hatte, bildete man sich auch ein, Christ zu sein. Man war es nicht in Wirklichkeit, denn dass man da drinnenstand, war dadurch gegeben, dass man eben kein Christ war. Man gewöhnte sich so in ein lügenhaftes Leben hinein, man gewöhnte sich ab, die wichtigsten Tatsachen des Lebens wahrheitsgemäß anzusehen. 

(Seite 187) Der Materialist Pierre Bayle hat gesagt: Ein Staat kann nicht christlich sein; Ehre und Schande herrschen in einem Staate, Ehrgeiz und Egoismus herrschen in einem Staate, aber ein christlicher Staat ist nicht möglich. – Aber eine christliche soziale Gemeinschaft wird möglich sein, wenn man sie nur nicht absolut staatlich haben will, wenn man ein freies Geistesleben begründen wird. Das wird Christus-durchdrungen sein können. Dann wird dieses freie Geistesleben den Christus- Impuls auch ausstrahlen können in dasjenige, was nimmermehr christlich sein kann, in das eigentliche Staatsleben. Dann wird sich auch ein wirtschaftliches Leben der Assoziationen geltend machen können, das als solches selbstverständlich nicht christlich sein kann; aber die Menschen, die darinstehen, die werden christlich sein. Sie werden vom Christus-Impuls durchdrungen sein, nur muß man die Menschen hineinkommen lassen ins freie Geistesleben. So wird das ganze soziale Leben christlich sein können.

 

 

 

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