Aus Nr. 4 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 230, (Hervorhebungen IH). Selbstverständlich ist dieser ganze Abschnitt nur zu verstehen auf dem Hintergrund des vorangegangenen 13. Kapitels sowie natürlich auf dem Hintergrund der ganzen vorangegangenen zwölf Kapitel der Philosophie der Freiheit (siehe dazu auch hier auf Umkreis-Online):
Wenn also die pessimistischen Ethiker der Ansicht sind, durch den Nachweis, dass die Unlust in größerer Menge vorhanden ist als die Lust, den Boden für die selbstlose Hingabe an die Kulturarbeit zu bereiten, so bedenken sie nicht, dass sich das menschliche Wollen seiner Natur nach von dieser Erkenntnis nicht beeinflussen lässt. Das Streben der Menschen richtet sich nach dem Maße der nach Überwindung aller Schwierigkeiten möglichen Befriedigung. Die Hoffnung auf diese Befriedigung ist der Grund der menschlichen Betätigung. Die Arbeit jedes einzelnen und die ganze Kulturarbeit entspringt aus dieser Hoffnung. Die pessimistische Ethik glaubt dem Menschen die Jagd nach dem Glücke als eine unmögliche hinstellen zu müssen, damit er sich seinen eigentlichen sittlichen Aufgaben widme. Aber diese sittlichen Aufgaben sind nichts anderes als die konkreten natürlichen und geistigen Triebe; und die Befriedigung derselben wird angestrebt trotz der Unlust, die dabei abfällt. Die Jagd nach dem Glücke, die der Pessimismus ausrotten will, ist also gar nicht vorhanden. Die Aufgaben aber, die der Mensch zu vollbringen hat, vollbringt er, weil er sie kraft seines Wesens, wenn er ihr Wesen wirklich erkannt hat, vollbringen will. Die pessimistische Ethik behauptet, der Mensch könne erst dann sich dem hingeben, was er als seine Lebensaufgabe erkennt, wenn er das Streben nach Lust aufgegeben hat. Keine Ethik aber kann je andere Lebensaufgaben ersinnen als die Verwirklichung der von den menschlichen Begierden geforderten Befriedigungen und die Erfüllung seiner sittlichen Ideale. Keine Ethik kann ihm die Lust nehmen, die er an dieser Erfüllung des von ihm Begehrten hat. Wenn der Pessimist sagt: strebe nicht nach Lust, denn du kannst sie nie erreichen; strebe nach dem, was du als deine Aufgabe erkennst, so ist darauf zu erwidern: das ist Menschenart, und es ist die Erfindung einer auf Irrwegen wandelnden Philosophie, wenn behauptet wird, der Mensch strebe bloß nach dem Glücke. Er strebt nach Befriedigung dessen, was sein Wesen begehrt und hat die konkreten Gegenstände dieses Strebens im Auge, nicht ein abstraktes «Glück»; und die Erfüllung ist ihm eine Lust. Was die pessimistische Ethik verlangt: nicht Streben nach Lust, sondern nach Erreichung dessen, was du als deine Lebensaufgabe erkennst, so trifft sie damit dasjenige, was der Mensch seinem Wesen nach will. Der Mensch braucht durch die Philosophie nicht erst umgekrempelt zu werden, er braucht seine Natur nicht erst abzuwerfen, um sittlich zu sein. Sittlichkeit liegt in dem Streben nach einem als berechtigt erkannten Ziel; ihm zu folgen, liegt im Menschenwesen, solange eine damit verknüpfte Unlust die Begierde danach nicht lähmt. Und dieses ist das Wesen alles wirklichen Wollens. Die Ethik beruht nicht auf der Ausrottung alles Strebens nach Lust, damit bleichsüchtige abstrakte Ideen ihre Herrschaft da aufschlagen können, wo ihnen keine starke Sehnsucht nach Lebensgenuss entgegensteht, sondern auf dem starken, von ideeller Intuition getragenen Wollen, das sein Ziel erreicht, auch wenn der Weg dazu ein dornenvoller ist.
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