Rudolf Steiner: Ein Bankdirektor, der den «Aufruf» wirklich versteht und in seinem Sinne wirkt, ist mehr wert als zehn Schriftsteller

 

von Rudolf Steiner

 

Als damals im Jahre 1919 Rudolf Steiner sich mit seinem Aufruf zur Installierung der Sozialen Dreigliederung an das deutsche Volk gewandt hatte, war dieser Aufruf von vielen (auch nicht-anthroposophischen) Persönlichkeiten des damaligen Kulturlebens durch Ihre Unterschrift unterstützt worden.

         „Unter den zahlreichen Unterschriften fällt der Name von Thomas Mann, der damals in München lebte, auf, oder der Name von Kapellmeister Fritz Busch, Stuttgart“ (GA 217a (S. 231).

Das war sicher ausgesprochen positiv. Dennoch bemerkte Rudolf Steiner einmal in einem Vortrag dieses Jahres, dass ein Bankdirektor in diesen Angelegenheiten mehr zähle als zehn Schriftsteller:

Was also vor allen Dingen notwendig ist, das ist eine andere Einstellung. Auch die Einsicht, dass es notwendig ist zu sehen, wie diese Kultur, die so gelobt worden ist, den Tod in sich selber getragen hat, sich aufgelöst hat. Sie müssen nicht glauben, dass durch die heutigen radikal sozialistischen Bewegungen die Kultur verdorben worden ist. Die hat sich selbst verdorben! Das, was die Oberschicht an Kultur hatte, das hat sich selbst in die Nullität hineingeführt, das geht an sich selbst zugrunde. Diese Oberschicht hat nur nicht dafür gesorgt, dass die unteren proletarischen Schichten, die nachkommen (siehe dazu auch hier; Anmerkung IH), etwas Vernünftiges wissen über die sozialen Einrichtungen, und jetzt ist sie verwundert, wenn die in ihrer sozialen Unwissenheit herankommen und eigentlich nichts als ein Chaos herbeiführen. Die Lage ist eben ernst und aus dieser Erfassung des Ernstes der ganzen heutigen Welt fließen die Ideen, die ich in meinem Buche über die soziale Frage („Die Kernpunkte der sozialen Frage“; Anmerkung IH) habe aussprechen müssen. Dieses Buch wird man nur richtig verstehen, wenn man begreift, dass man heute die besten Einrichtungen treffen kann, dass aber mit den Menschen, die die Ideen unserer Zeit im Kopfe haben, eben nichts zu machen ist. Vor allem müssen die Köpfe mit anderen Ideen erfüllt werden. Was ist also die wirkliche, reale, die wahrhaft praktische Aufgabe? Aufklärung verbreiten, meine lieben Freunde, vor allen Dingen Aufklärung verbreiten und die Menschen umdenken lehren! Das ist der Appell, der an jeden einzelnen von Ihnen geht, Aufklärung zu bringen in die Köpfe der Menschen, nicht an schrullenhafte Reformationen im einzelnen zu denken, sondern in universalistischer Weise aufklären über das, was not tut. Denn vor allen Dingen müssen heute die Menschen anders werden, das heißt, die Gedanken, die Empfindungen in den Seelen der Menschen müssen anders werden. Es handelt sich darum, diese Ideen dorthin zu tragen, wo man nur kann. Das ist das Praktische, das bedeutet: diese Ideen ins Praktische umsetzen. Mit jedem Viertelmenschen – verzeihen Sie, dass ich so spreche -, den Sie für diese Ideen gewinnen, ist etwas erreicht. Und am meisten ist erreicht, wenn Sie Leute, die in der Praxis stehen, gewinnen. Bei der Unterzeichnung des „Aufrufes“ (Rudolf Steiner meinte seinen Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt!) habe ich neulich gesagt: Es ist ja wirklich recht erfreulich, dass Schriftsteller unter diesem „Aufrufe“ stehen, aber ein Bankdirektor, der den „Aufruf“ wirklich versteht und in seinem Sinne wirkt, ist mehr wert als zehn Schriftsteller, die ihre Namen daruntersetzen. Es kommt heute darauf an, das Leben da anzufassen, wo es anzufassen ist. Und das geht heute nicht anders, als indem man vor allen Dingen Aufklärung verbreitet, aufklärend wirkt. Denn, was die Menschen am notwendigsten brauchen, das ist die Kenntnis von den Lebensbedingungen des gesunden Organismus. Wenn die Menschen nicht die Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus erkennen lernen, so werden sie fortfahren, den alten sozialen Organismus zu zerstören, solange das Zerstören möglich ist. Es geht ja selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Punkte. Alles, was jetzt gemacht wird ohne diese Ideen, ist Raubbau an der alten Ordnung, ist Abtragen der alten Ordnung. Dieses hat in Russland begonnen und wird von da aus weitergehen. Worauf es ankommt, ist, aufzubauen. Aber aufbauen können Sie heute nur, wenn die Menschen verstehen, wie der Aufbau gemacht werden muss. Denn wir leben im Zeitalter der Bewusstseinsseelen-Entwickelung, das heißt im Zeitalter der bewussten Individualitäten, in dem Zeitalter, wo die Menschen wissen müssen, was sie tun.

Aus diesem Geiste heraus ist mein Buch („Die Kernpunkte der sozialen Frage“; Anmerkung IH) geschrieben, in diesem Geiste möchte ich es verstanden wissen. In diesem Geiste möchte ich es Ihnen ans Herz legen. Es will einfach der Zeit dienen; es will das aussprechen, was aus dem Geiste der Zeit heraus ausgesprochen werden muss. 

aus Nr. 190 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite: 218ff

 

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