Regierung lehnt Mindestlohn gegen die breite Zustimmung des Volkes ab – Aber darum geht es nicht – Sondern menschliche Arbeitskraft darf nicht mehr wie eine Ware verkauft werden müssen – Denn die Menschheit ist im Wirtschaftlichen eine Familie

von Ingo Hagel 

 

Vor kurzem hat sich die Bundesregierung – wieder mal – gegen die Einführung eines allgemeinverbindlichen gesetzlichen Mindestlohns entschieden, indem sie die entsprechenden Gesetzentwürfe von SPD und Grünen ablehnte.

Bemerkenswerterweise ist jedoch das Rechtsempfinden der Menschen in Deutschland fast vollständig für die Einführung eines Mindestlohns:

Die Linke-Abgeordnete Jutta Krellmann verwies auf 86 Prozent Zustimmung der Bevölkerung zu einem gesetzlichen Mindestlohn. 

Mit ihrer Entscheidung gegen die Einführung eines Mindestlohnes stellt sich die Regierung (sogenannte Volksvertreter) gegen den Willen des Volkes, das sie vertreten soll. Zudem zeigt dieser Schritt mal wieder, in welchem Maße sie mit den Interessen der Wirtschaft gegen die Interessen der Menschen verfilzt ist (s. hier und hier auf Umkreis-Online).

Diese Ablehnung eines allgemeinen Mindestlohns bedeutet, dass weiterhin fast ein Viertel der Angestellten von ihrem Arbeitsverdienst kaum leben geschweige denn eine Familie ernähren kann. Vor allem kann er sich nicht – obwohl er es dringend ersehnt – geistig als Mensch entwickeln, da er und seine Arbeitskraft wie eine Ware in der Welt gehandelt, verschoben und ausgenutzt wird (s. hier auf Umkreis-Online).

Der Focus schreibt mit Blick auf die Beschäftigten im Niedriglohnsektor:

Laut einer Studie der Universität Duisburg-Essen wächst in Deutschland die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Im Vergleich zu 2008 hätte vor allem der Anteil der Geringverdiener mit einem Stundenlohn von unter fünf Euro zugenommen, so die Leiterin der Studie. …. Im Jahr 2009 gehörten inflationsbereinigt rund 22 Prozent der Beschäftigten zum Niedriglohnbereich …. vor allem der Anteil der Geringverdiener mit einem Stundenlohn von unter fünf Euro habe im Vergleich zu 2008 zugenommen …. Gut 18 Prozent der Beschäftigten in Deutschland kamen 2009 laut Studie auf weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde, dem von Gewerkschaften geforderten Mindestlohn. Über elf Prozent, also rund 3,6 Millionen Menschen, hatten einen Stundenlohn von weniger als sieben Euro brutto. Gut 1,2 Millionen Menschen und damit rund vier Prozent hätten weniger als fünf Euro in der Stunde bekommen.

Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten, die einen Niedriglohn erhalten, lag 2010 bei 22,8 Prozent. Damit ist also rund ein Viertel der Vollzeitbeschäftigten von diesen unwürdigen Lohn- und Lebensverhältnissen betroffen.

Die Niedriglohnschwelle liegt derzeit bei 1379 Euro für Ostdeutschland und bei 1890 Euro für Westdeutschland.

Der Vorsitzende der Linkspartei, Klaus Ernst, warf der SPD vor, sie sei als ehemalige Regierungspartei mitverantwortlich für Armut und Niedriglöhne in Deutschland.

Das ist richtig. Die Nachdenkseiten schrieben im Januar 2010, dass das Ziel der Einführung von Hartz I-IV und der jetzigen Rahmenbedingungen der Leiharbeit in Deutschland den Aufbau des größten Niedriglohnsektors in der EU bedeutet. Und sie wiesen auf die an vielen Stellen im Internet dokumentierten Worte des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder hin, der dies am 28. Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos bestätigte, indem er sagte:

…Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. ….

Sämtliche Regierungen Deutschlands, schwarz-gelb wie rot-grün, haben also an der Installierung, Festigung und Ausweitung dieser menschenunwürdigen Niedriglohn-Verhältnisse mitgewirkt.

Der Einsatz für eine bessere Bezahlung ist natürlich berechtigt und positiv. Aber selbst wenn SPD und Grüne sich jetzt plötzlich eines anderen besinnen (in 2013 wird ja gewählt….), so wäre der angestrebte Mindestlohn ja nur das Hinwerfen eines Brotkrümels an eine bestimmte besonders schlecht behandelte Gruppe der arbeitenden Bevölkerung.

Kommen muss etwas ganz anderes, wenn man wirklich in einem modernen Sinne sozial sein will.

Denn es muss doch gesagt werden: So wichtig es ist, dass jemand durch seine Arbeit ein menschenwürdiges Leben ermöglichen kann, so anachronistisch und völlig überholt ist diese gesamte Diskussion um Löhne – egal ob dieser Lohn nun höher oder niedriger liegt – und ebenso veraltet sind die ganzen Ansätze zur Lösung dieser Frage, inklusive derjenigen über einen Mindestlohn.

Was kommen muss, ist etwas ganz anderes (s. dazu hier und hier auf Umkreis-Online):

Menschliche Arbeitskraft darf nicht mehr wie eine Ware auf dem Markt verkauft werden müssen

Arbeit und Einkommen des Menschen sind zu trennen – sie haben nichts miteinander zu tun

Es geht nicht um Lohn, sondern um eine gerechte Verteilung des von allen am Arbeitsprozess Beteiligten gemeinsam erwirtschafteten Erlöses

Der wirtschaftlich Schwache darf bei dieser Teilung nicht mehr übers Ohr gehauen werden

Rudolf Steiner verwies jedoch noch auf etwas anderes, was den Menschen heute jedoch immer noch so schwerfällt zu denken.

…. Arbeitskraft kann niemals eine Ware sein! Und wo im Wirtschaftsprozess Arbeitskraft zur Ware gemacht wird, ist dieser Wirtschaftsprozess Lüge. Denn es wird in die Wirklichkeit etwas hineingeworfen, was niemals ein wahrer Bestandteil dieser Wirklichkeit sein kann. Menschliche Arbeitskraft kann aus dem Grunde keine Ware sein, weil sie den Charakter, den notwendig jede Ware haben muss, nicht haben kann. Im Wirtschaftsprozess muss jede Ware in die Möglichkeit versetzt sein, an Wert mit einer anderen Ware verglichen zu werden. Die Vergleichbarkeit ist die Grundbedingung für das Ware-Sein von etwas. Menschliche Arbeitskraft aber kann niemals mit irgendeinem Warenprodukte in Bezug auf den Wert verglichen werden. Es wäre eigentlich furchtbar einfach, wenn man nur nicht heute verlernt hätte, einfach zu denken. Man denke nur daran, wenn meinetwillen in einer Familie zehn Leute zusammenarbeiten, jeder seinen Teil arbeitet, wie man den Arbeitsteil eines einzelnen aus diesen zehn vergleichen kann mit den Leistungen, die diese zehn hervorbringen. Man hat gar nicht die Möglichkeit, mit den Warenleistungen die Arbeitskraft zu vergleichen. Die Arbeitskraft steht auf einem ganz anderen Boden des sozialen Beurteilens als die Ware.

Dieser Aspekt mit der „Familie“ wird von Rudolf Steiner nicht weiter ausgeführt, er überlässt es seinen Zuhörern, diesen Begriff weiterzudenken, da dies ja doch „eigentlich furchtbar einfach“ ist. In der Tat braucht man ja nur zum Beispiel an die Zeiten zurückzudenken, in denen auf einem Bauernhof diese zehn Menschen zusammenarbeiteten – ich habe sie selbst noch in einer gewissen Weise erlebt: Der Jungbauer mit seiner Frau und den Kindern, die Eltern, die Großeltern und wer sonst noch auf dem Hof lebte. Der geleistete Arbeitseinsatz dieser einzelnen Menschen auf diesem Hof war selbstverständlich sehr verschieden. Der Jungbauer leistete die Hauptarbeit, die Mutter holte morgens und abends die Kühe zum Melken in den Stall und half im Frühjahr beim Rübenverziehen, und die Kinder bei der Heu- und Kartoffelernte. Der alte Vater kehrte vielleicht nur den Hof. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen die geleistete Arbeitskraft der einzelnen mit der Warenleistung des Hofes zu verrechnen. Man war eben eine Gemeinschaft – eine Familie. Jeder leistete den Einsatz, den er aufgrund seiner Fähigkeiten leisten konnte, und wurde menschenwürdig versorgt. Geleistete Arbeit und Einkommen hatten nichts miteinander zu tun. Keiner wäre auf den Gedanken gekommen, den Vater oder Großvater nur mit einem 400 Euro Job (oder Schlimmerem) abzuspeisen, da dies ja doch seiner realen Warenleistung entsprach.

Heute sagen fast alle Menschen – nicht nur die Unternehmer und Kapitalisten: Aber was meint Rudolf Steiner denn? Wir sind doch keine Familie! Ja, an solchen Irrtümern scheitert die Fortentwicklung der sozialen Frage von krankhaften zu gesunden Verhältnissen. Man sieht eben nicht, dass die Menschen – regional, national und global – alle zusammen eben doch eine Familie und Brüder sind – jedenfalls mit Blick auf das Wirtschaftsleben! Und dort muss eben die Brüderlichkeit gelten – oder um mit dem hier angeführten Ausspruch Rudolf Steiners zu sprechen: die Familienmäßigkeit. Zudem arbeitet man letztlich nie für sich selbst, sondern – brüderlich – für den anderen Menschen. Auch das ist etwas, was heute so schwer fällt zu denken, denn man meint zu arbeiten, um für sich Geld zu verdienen. Was für ein Unsinn, denn wenn keiner mehr nach meiner Dienstleistung für den Anderen verlangt, kann ich auch nicht mehr sinnvoll arbeiten.

Im Grunde verweist Rudolf Steiner auf die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und stellt sie in den richtigen Zusammenhang, ohne den nur Wirrwarr entsteht. Denn es ist doch scharf zu beachten, dass diese Ideale nur für die entsprechenden Bereiche gelten: Gleichheit der Menschen im Rechtsleben, Freiheit im Geistesleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Die Brüderlichkeit gilt eben nur im Wirtschaftsleben, nicht im Geistesleben. Im Geistesleben ist der geistige Kampf am Platze – nicht körperliche, gemeine, intrigante und verbrecherische Kampf. Aber dieser geistige Kampf der Menschen um Ansichten ist an dieser Stelle absolut gesund und fruchtbar.

Heute versucht man es zu verdrehen: Im Wirtschaftsleben herrscht der Kampf, nicht die Familie in ihrer Brüderlichkeit. Und im Geistesleben ertragen Viele den Kampf nicht, weil sie in ihrer eigenen Geistigkeit zu schwach sind. Nur so ist es zum Beispiel zu verstehen, dass Angela Merkel so erfolgreich ist, weil sie ihre erbarmungslose Politik so lieb und brüderlich klingend verkauft. „Fast zwei Drittel sind mit der Bundeskanzlerin zufrieden und 69 Prozent der Befragten halten sie für eine gute Kanzlerin.“ Es ist nicht zu fassen – nicht nur mit Blick auf Merkels (Mindestlohn-) Politik.

Und es darf auf noch ein Wort Rudolf Steiners mit Blick auf eine Lösung der sozialen Frage verwiesen werden. Er war damals überzeugt, dass eine Lösung der sozialen Frage vom Verständnis der Arbeiterschaft (damals Proletariat genannt) abhängt:

….ich habe den festen Glauben, den ich mir durch ein langes Leben unter dem Proletariat erworben habe, dass dasjenige, was ich gesagt habe, zunächst nicht von den anderen Klassen, sondern gerade vom Proletariat verstanden werden wird. Und es muss leider gewartet werden, bis es vom Proletariat verstanden werden wird. Ich glaube aber, da wird es verstanden werden können.

Heute stehen wir wieder vor diesem Punkt, wo die Zeit – mit dieser völlig in die falsche Richtung weisende Mindestlohndebatte – wieder zu einer angemessenen Lösung dieser Fragen aufruft. Und es ist zu hoffen, dass nicht nur – wie oben erwähnt – 86 % der Bevölkerung für einen Mindestlohn sind, sondern mit diesen umfassenderen Forderungen Rudolf Steiners einer Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, einer Freiheit im Geistesleben und einer Gleichheit im Rechtsleben – und einer entsprechenden sozialen Ordnung – verstehend mitzugehen in der Lage sind.