von Ingo Hagel
„Post-Chef Frank Appel will niedrigere Sozialleistungen für Schlechtverdiener!“
Diesen Titel hätte das Interview der FAZ mit Post-Chef Frank Appel eigentlich tragen müssen. Aber die FAZ streute ihren Lesern Sand in die Augen und schrieb stattdessen: „Höhere Sozialabgaben für Gutverdiener.“ Das klingt auch wirklich besser.
Dieser Testballon für einen weiteren Abbau des Sozialstaates verkaufte die FAZ als „Wege aus dem Schuldenstaat“. Da sind natürlich auch die ganzen Schulden aus den diversen Bankenrettungspaketen drin sind, die unsere Regierung der Gesellschaft unter Zustimmung fast aller Oppositionsparteien auflastet. Für diese dürfen nun die Bürger auch über den Abbau des Sozialsystems bezahlen.
Frank Appel meinte (Hervorhebungen IH):
Für eine nachhaltige Lösung der Staatsverschuldung müssten zunächst Steuer- und Sozialversicherungssysteme vollständig voneinander entkoppelt werden. Ein großer Wurf wäre es, alle Sozialleistungen strikt nach dem Prinzip der Tragfähigkeit zu finanzieren. Jeder Euro Einkommen wird dann mit dem gleichen Prozentsatz an Sozialabgaben belastet, und jeder bekommt das gleiche heraus. Ob Geringverdiener oder Einkommensmillionär, sie würden den gleichen Teil ihres Einkommens einbezahlen und den gleichen Anspruch auf soziale Grundleistungen erwerben. Also gesetzliche Krankenversicherung, Grundrente im Alter, Arbeitslosenversicherung. Natürlich bedarf eine solche Transformation unserer sozialen Sicherungssysteme einer behutsamen Überprüfung aller Folgewirkungen. Über Nacht lässt sich das nicht einführen.
Natürlich darf das, was Appel will, nicht „über Nacht“ eingeführt werden. Das würde ja auffallen. Die Leistungen des Sozialbereichs sollen also gekürzt werden. Klar, dann bleibt für die zu rettenden Banken und die Wirtschaft mehr übrig. Leider teilte Appel den FAZ-Lesern nicht mit, was jeder Mensch denn dann bei dem von ihm genannten „Anspruch auf soziale Grundleistungen“ konkret an Leistungen der Krankenversicherung, der Altersrente und des Arbeitslosengeldes erwarten dürfte.
Als die FAZ verschämt auf die Möglichkeit einer „heftigen Gerechtigkeitsdebatte“ verwies und „dass sich Geringverdiener mit dem sozialen Mindestschutz zufriedengeben müssten“, meinte Appel:
Ich sehe das genau umgekehrt. Die Finanzierung des Sozialsystems würde gerechter, weil hohe Einkommen viel mehr beitragen würden als im heutigen System mit seinen Beitragsbemessungsgrenzen für Leute mit höherem Einkommen und Ausnahmen für Beamte, Freiberufler und andere. Auf der Leistungsseite gäbe es nur noch eine Grundversorgung für alle. Wer mehr will, müsste das aus eigener Tasche zahlen. Aber ist das unsozial? Es entspricht dem marktwirtschaftlichen System, in dem es auch eine Frage persönlicher Präferenzen ist, wofür man sein Geld ausgeben will.
Das Vorhaben, das hier Appel und die ihm ein Podium bietende FAZ unters Volk zu bringen versuchen, bedeutet natürlich einen weiteren Schritt zum Ende der Solidargemeinschaft, wie wir sie bis jetzt gekannt haben. Diese war mit Blick auf das Schicksal des anderen Menschen, des Mitmenschen, als ein Sicherungssystem angelegt und beruhte eben darauf, dass man in dieses System einzahlte, obwohl man möglicherweise – im Falle eigener Gesundheit und Nichtbedürftigkeit – nichts herausbekam.
Ich will mich nicht dazu äußern, ob dieses System mittlerweile überfordert ist, ausgenutzt wird, oder in seinen Leistungen den Möglichkeiten der einzahlenden Gemeinschaft angepasst werden müsste. Diese Dinge sind erstmal zweitrangig. Als erstrangig muss jedoch angesehen werden, dass es sich bei Appels Vorhaben um den Versuch handelt, den Sozialbereich – das heißt das Rechtsleben – nach Prinzipien des Wirtschaftslebens zu regeln. Und das darf nicht sein.
Wenn ein Mensch im Falle einer Bedürftigkeit Ansprüche geltend machen darf an seine Mitmenschen, dann handelt sich ja um ein Recht, das heißt um ein bestimmtes Verhältnis des einen Menschen zum anderen Menschen. Ein aus dem allgemeinen Rechtsempfinden heraus gebildeter Konsens verpflichtet alle Menschen, einen bestimmten Betrag in die gemeinsame Kasse einzuzahlen, um einem anderen Menschen im Falle der Not zu helfen. Unser Sozialsystem gehört also zum Rechtsleben des sozialen Ganzen.
Dieses Rechtsleben wird nun ausgehebelt vom Wirtschaftsleben, das immer danach strebt, alles, aber auch restlos alles, zur Ware zu machen und rein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten und zu behandeln. Wie erwähnt, kann das Wirtschaftsleben nicht anders. Auch ist dieser Ansatz auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens richtig und berechtigt. Aber der Mensch ist keine Ware und kein Rohstoff, den man entsorgen kann, wenn er sich nicht mehr rentiert. Und daher darf dieses Prinzip einer reinen Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nicht auf Rechtsleben – in diesem Falle auf das Sozialsystem: Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Altersrente – übertragen werden. Und vor allen Dingen darf das Rechtsleben niemals ein Teil des Wirtschaftsleben werden. Und genau dies deutet sich hier an.
Appel kann nur wirtschaftlich denken, das belegen seine Vorschläge eines Sozialsystems nach dem
„Prinzip der Tragfähigkeit“
und:
„Wer mehr Leistungen will, muss privat vorsorgen.“
sowie:
„Auf der Leistungsseite gäbe es nur noch eine Grundversorgung für alle. Wer mehr will, müsste das aus eigener Tasche zahlen. Aber ist das unsozial? Es entspricht dem marktwirtschaftlichen System, in dem es auch eine Frage persönlicher Präferenzen ist, wofür man sein Geld ausgeben will.“
Diese Gesichtspunkte sind typisch für die Arbeitsweise im Wirtschaftsleben; sie sind auch im dazugehörigen Konsumbereich angebracht, aber nicht im Sozialbereich. Natürlich muss eine Firma Mitarbeiter entlassen, wenn diese im Betrieb keine Aufgabe mehr zu erfüllen haben. Aber eine Gesellschaft kann nicht ihre Alten, Kranken und Arbeitslosen in die Wüste schicken oder sich selbst überlassen, weil sie zu hohe Kosten verursachen.
Anmerkung: Es ist nicht die Aufgabe eines Unternehmens, die Menschen einer Gesellschaft unter allen Umständen in Lohn und Brot zu halten. Wenn Mitarbeiter – zum Beispiel wegen Rationalisierungen – entlassen werden müssen, werden diese eigentlich an anderer Stelle der Gesellschaft gebraucht. Denn es gibt eigentlich keine Arbeitslosigkeit – es gibt aufgrund kranker Geldflüsse nur immer weniger Geld, um die in einer Gesellschaft nötige Arbeit zu bezahlen.
Selbstverständlich darf das Rechts- und sein Sozialsystem nicht mit überzogenen Forderungen ruiniert werden. Aber die Diskussion darüber muss vom Rechtsleben und nicht von Vertretern des Wirtschaftslebens aus deren Gesichtspunkten heraus geführt werden.
Appel meint, dass „Steuer- und Sozialversicherungssysteme vollständig voneinander entkoppelt werden“ müssen. Was für ein Unsinn. Denn selbstverständlich hat das Rechtsleben das Recht, sein Funktionieren – und zu diesen Funktionen gehören nun mal neben verschiedenen anderen Bereichen auch die Absicherung der Kranken, Arbeitslosen und Rentner – durch Steuern oder Abgaben zu sichern. Über die Höhe dieser Steuer darf allein das Rechtsleben entscheiden. Es kann gar nicht anders gehen als über Steuern oder Abgaben. Das Rechtsleben hat ja – wie das Wirtschaftsleben – kein Produkt zu vermarkten. In diesem gelten nicht die Wirtschaftsprinzipien sondern die Prinzipien der Menschlichkeit, das heißt eines bestimmten Verhältnisses von Mensch zu Mensch. Man kann fragen: Welche Auffassungen herrschen davon in einer Gesellschaft? Was soll finanziert werden? Und danach müssen eben die von den Menschen zu entrichtenden Steuern ausfallen? Darüber hat aber nicht das Wirtschaftsleben zu bestimmen, sondern die Menschen, die Vertreter des Rechtsleben sind. Dass dieses Rechtsleben – wie auch das freie Geistesleben – heute immer mehr vom Wirtschaftsleben okkupiert wird, das sich wie ein großes gesellschaftliches Krebsgeschwür ausbreitet, steht auf einem anderen Blatt. Hier muss eben die Gesundung ansetzen, indem diese drei Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – Wirtschaftsleben, Rechtsleben und freies Geistesleben – voneinander getrennt und als selbständige Organisationen nebeneinander hingestellt werden.
Appel meint: „Wer mehr Leistungen will, muss privat vorsorgen.“ Das ist schon einigermaßen zynisch, weil diese Aussage nicht den Konsum- sondern den Sozialbereich betrifft. Sicher fällt es Appel bei seinem Gehalt von 3 Millionen Euro leicht, „privat vorzusorgen“ und „mehr Leistungen“ zu ordern. Ein Gespür für das Leben sowie ein Mitgefühl für die Schicksale anderer Menschen ist aus den Vorschlägen des Post-Chefs Frank Appel jedoch nicht herauszuhören.
Update: Gerade eben meldet der Spiegel, dass Deutsche-Post-Chef Frank Appel schon mit 55 Jahren in Rente gehen und die vollen Pensionsleistungen in Anspruch nehmen kann. „Der Barwert seiner Rentenzusage liegt derzeit bei 7,2 Millionen Euro.“