von Ingo Hagel
In dem Nachrichtenblatt der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft – Nachrichten für Mitglieder – Anthroposophie weltweit“ Nr. 8/2010 wurden die drei neuen Leiter der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum Ueli Hurter, Jean-Michel Florin und Thomas Lüthi vom Redakteur Sebastian Jüngel auch zur Frage der Zukunft der politischen Arbeit der Landwirtschaftlichen Sektion interviewt (Hervorhebungen IH):
Jüngel: Ihr Vorgänger Nikolai Fuchs hat die biologisch-dynamische Bewegung stark auf politischem Feld vertreten und, wo nötig, um ihren Fortbestand gekämpft. Wie geht es mit der politischen Arbeit – beispielsweise in Brüssel und mit der Aktion Eliant – weiter?
Hurter: Die politische Arbeit geht weiter. Wir haben ja gelernt, dass man möglichst proaktiv präsent sein muss. Die Sektion für Landwirtschaft, der Internationale Verein für biologisch-dynamische Landwirtschaft (IBDA) und Demeter International können sich diese Aufgabe teilen. Die Führungsrolle der Sektion ist nicht mehr zwingend wie vor neun Jahren, als Nikolai Fuchs die politische Arbeit auf diesem Niveau überhaupt angefangen hat. Eliant tragen wir voll mit.
Florin: Diese Arbeit wird weitergetragen, aber anders verteilt. Von meiner Seite werde ich versuchen, einige von den politischen Problemen mit anderen Institutionen zu besprechen, damit wir zusammen politisch wirken können. Das habe ich schon zum Teil in Frankreich mit anderen Vereinen und mit Kollegen so gemacht.
Thomas Lüthi, den „das Duo Jean-Michel Florin und Ueli Hurter“ als Partner sinnvoll fand, weil dieser „in der Hochschule im Sinne der Ersten Klasse mehr Erfahrung hat und für die Menschen, die dort beheimatet sind, als Vertrauensperson stehen kann“, hatte diesen politischen Ambitionen seiner zwei Kollegen nichts Korrigierendes hinzuzufügen. – Der letzte Sektionsleiter Nikolai Fuchs muss mit seinen politischen Aktivitäten mächtig Eindruck bei seinen Nachfolgern hinterlassen haben.
Anmerkung: Erinnern wir uns: Man hält es an der Landwirtschaftlichen Sektion am Goetheanum seit geraumer Zeit für eine Innovation, Politikern und Funktionären und ihren (nicht-anthroposophischen) Ansichten ein Forum zu bieten. So wurden auf der Landwirtschaftlichen Tagung 2006 die beiden ehemaligen Bundesministerinnen (Justiz) sowie Renate Künast (Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft) für Vorträge ans Goetheanum gebeten. Der Redakteur der Wochenschrift „Das Goetheanum“ (vom 10. Feb. 2006) schwadronierte, mit der Anwesenheit der beiden Politikerinnen (und „weiterer Prominenter des biologischen Landbaus“) sei „ein Coup gelungen“ – ein Ausdruck, der normalerweise Ereignisse wie Banküberfälle und Staatsstreiche würdigt, diese Vorgänge an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft jedoch nicht unbedingt unangemessen beschreibt.
Herta Däubler-Gmelin bedankte sich bei ihren Gastgebern im Goetheanum dann auch sehr offen, indem sie ihnen freundlich bescheinigte, wofür sie die biologisch-dynamische Landwirtschaft hielt, nämlich für einen „Minderheitenansatz“ (diplomatische Umschreibung für: nicht mehrheitsfähig, weil zu spinnig). Für den enthusiastischen Redakteur der Wochenschrift „Das Goetheanum“ war es so, dass in dieser vernichtenden Einschätzung nur „eine gewisse Distanz durchschien.“
Begeistert und kritiklos kolportierte „Das Goetheanum“ auch die Äußerungen von Renate Künast, denn diese gab den am Goetheanum versammelten (und offenbar ratlosen Anthroposophen) „konkrete Ratschläge“, indem sie „potentielle Partner“ nannte, mit denen man „schamlos Bündnisse“ eingehen könnte. Letzterer „Tip“ war offenbar so prima, dass „Das Goetheanum“ ihn gleich fettgedruckt als Überschrift des Artikels auf die erste Seite setzte. Auch Künasts Einschätzung, es gehe um eine Ökologisierung des Mainstream, „alles andere wäre unverantwortlich“, wurde im „Goetheanum“ (sicher aus irrsinniger Freude über den hohen Besuch) gedankenlos wiedergegeben, ohne eine Spur von Alpdrücken ob dieser politischen Vision und Zukunftsperspektive mit Blick auf das Anliegen der (biologisch-dynamischen) Gastgeber, die dort zwischen den Zeilen wetterleuchtete. Wohl kaum für Renate Künast aber für die Anthroposophen könnte es als Katastrophe empfunden werden, wenn es in Zukunft tatsächlich nicht mehr als nur eine Ökologisierung der Landwirtschaft gäbe – nämlich eine Spiritualisierung der Landwirtschaft, das heißt biologisch-dynamische Landwirtschaft -, und was in diesem Kontext die Worte: „alles andere wäre unverantwortlich“ bedeuten.
„Mit der Präsenz von Spitzenvertretern aus Bioverbänden und Politik auf „ihrer“ Tagung konnten die biologisch-dynamischen Landwirte indes erleben, dass sie eine wichtige Größe sind, die ernst genommen wird,“ schrieb „Das Goetheanum“, und „dass es einer Auffrischung des Selbstbewusstseins bedurfte.“ Auch Nikolai Fuchs, damaliger Leiter der Sektion für Landwirtschaft „blickte mit Erleichterung auf die Tagung zurück: die biologisch-dynamische Bewegung habe Kraft dadurch bekommen, dass sie als wichtige Größe der Ökologisierungskultur wahrgenommen wurde, die offen für andere Richtungen ist …“ Seinen Eindruck von der Tagung fasste er in besagtem Artikel zusammen: „Die biologisch-dynamische Bewegung hat ihren Kontext gefunden.“ Nun ja, wenn die biologisch-dynamische Bewegung sich nicht selber aus der Anthroposophie Kraft geben kann, dann muss sie diese eben von außen (zum Beispiel aus der Politik) erhalten.
Das Problem ist zusätzlich, dass dieser (politische) Unsinn, der vom Goetheanum vorexerziert wird, offenbar wie eine Bombe in der Peripherie eingeschlagen hat und andernorts nachgemacht wird, zum Beispiel von ehemals anthroposophischen Initiativen wie der Bochumer Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken (GLS) beziehungsweise der dort ansässigen Zukunftsstiftung Landwirtschaft (ZSL). Dort durfte im Oktober 2010 Albert Fink, Stiftungsrat und Initiator der Zukunftsstiftung Landwirtschaft zur „Jubiläumsfeier 10 Jahre Zukunftsstiftung Landwirtschaft“ gerade noch rückblickend über (vielleicht anthroposophische?) „Motive und Aspekte zur Begründung der Zukunftsstiftung Landwirtschaft“ sprechen, damit dann am selben Vormittag der Politikerin Renate Künast gestattet wurde, über die Zukunft der Landwirtschaft zu reden (Thema: „Alle reden über die Zukunft der Landwirtschaft – aber wohin soll die Reise gehen?“) – sicher nicht aus einem anthroposophischen Gesichtspunkt heraus.
Um es kurz zu machen: Das „politische Feld“ beziehungsweise „die politische Arbeit“ haben an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft nichts verloren. Da am Goetheanum darüber spätestens seit der Zeit, in der Nikolai Fuchs die Leitung der Sektion für Landwirtschaft innehatte, offenbar völlige Verwirrung eingetreten ist, möchte ich hierzu auf einiges hinweisen.
Dass die Politik nicht zu den Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft zählt, steht immerhin in deren Statuten, die auf der Weihnachtstagung zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft nach der Vernichtung des 1. Goetheanums beschlossen wurden (s. Rudolf Steiner, Briefe an die Mitglieder vom 13. Januar 1924, beziehungsweise GA 260a): Darin schreibt Rudolf Steiner gleich zu Beginn: „Der Anthroposophischen Gesellschaft eine Form zu geben, wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht, das war mit der eben beendeten Weihnachtstagung am Goetheanum beabsichtigt.“ Bevor er die auf dieser Tagung beschlossenen „Statuten“ den Lesern vorstellt, bemerkte er (unter anderem), dass die Anthroposophische Gesellschaft „nicht abstrakte Richtlinien oder Statuten haben“ kann. „Denn ihre Grundlage ist gegeben in den Einsichten in die geistige Welt, die als Anthroposophie vorliegen.“ Die „Felder des menschlichen Lebens und Tuns“, in die die in der geistigen Welt wurzelnde Anthroposophie „ihre Zweige, ihre Blätter, Blüten und Früchte wachsen“ lässt, betreffen die zu offenbarenden „Gesetze des geistigen Daseins“, die Kunst, die „allseitige Anregungen erhält“, die Religion, aber nicht, indem Anthroposophie eine neue Religion darstellt, sondern indem auf dem Wege einer Darstellung und eines Erlebens des Geistigen „der religiöse Sinn erwacht in wahrer Hingabe an das Göttliche in der Welt“ (das heißt, indem das Geistige immer mehr als ein Reales erlebt wird). Aus diesen Erlebnissen kann wahre Menschenliebe erwachen „und wird damit schaffend in Impulsen des sittlichen Handels und der echten sozialen Lebenspraxis“. Rudolf Steiner spricht in diesem Brief auch die Befruchtung der Naturwissenschaften durch die Ergebnisse der Anthroposophie an, wodurch „aus dem bloßen Naturwissen wahre Naturerkenntnis wird.“ Von politischer Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft ist nicht die Rede.
Mehr noch, sie wird in den Statuten, die auf der Weihnachtstagung beschlossen wurden, und die Rudolf Steiner in diesem Brief den Mitgliedern vorstellt, ganz dezidiert von den Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen. Hier der Wortlaut des betreffenden 4. Abschnittes der „Statuten“, (die Rudolf Steiner auch mal in Anführungszeichen setzte, weil ja alles auf freie geistige Einsicht gebaut sein sollte und diese „Statuten“ daher „kein „Statut“, sondern die Darstellung dessen sein soll, was sich aus einem solchen rein menschlich-lebensvollen Gesellschaftsverhältnis ergeben kann“, und diese damit „an die Stelle eines gewöhnlichen Statuts“ einer gewöhnlichen Gesellschaft treten sollten):
„4. Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend“ (Hervorhebung IH).
So freiheitlich war das Ganze konzipiert, dass jede Arbeitsgruppe innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft ihre eigenen Statuten bildet, „nur sollen diese den Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft nicht widersprechen.“
An anderer Stelle (GA 260) drückte sich Rudolf Steiner mit Bezug auf diesen Punkt der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft noch deutlicher aus: „„Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend.“ Diesen Satz brauchen wir, weil zahlreiche Missverständnisse aus allerdings nicht klarem Verhalten vieler unserer Mitglieder während der Dreigliederungszeit entstanden sind. Anthroposophie ist vielfach zu dem Ansehen gekommen, als ob sie sich in die politischen Angelegenheiten der Welt hineinmischen wollte – was sie nie getan hat, nie tun kann – dadurch, dass die Dreigliederungssache von unseren Freunden vielfach an die politischen Parteien herangebracht worden ist, was von vorneherein ein Fehler bei diesen Freunden war.“
In GA 167 schildert Rudolf Steiner Annie Besant, die gleich nach Ausbruch des 1. Weltkrieges „in ihren englischen Zeitschriften (der Theosophical Society; Anmerkung IH) in unerhörter Weise über dasjenige, was innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung lebt“ schimpfte. Denn „auf jener Seite konnte man sich gar nicht vorstellen, dass Politik nicht hineinspielt in dasjenige, was bei uns ehrlicher, rein nach Wahrheit suchender Okkultismus sein soll, in den das Politische unmittelbar nicht hineinspielen kann. Nur so weit kann das mit Politik zusammenhängen, als Wahrheit überhaupt in die Politik hineinkommen kann…“ (Hervorhebung IH), was doch nur heißen kann, dass von der Anthroposophie positiv beeinflusste Menschen deren Wahrheitsgeist in ihre tägliche Arbeit hineintragen – und das kann ja auch die politische Arbeit sein – nicht aber, dass die Politik in die Anthroposophische Gesellschaft hineingetragen wird. Selbstverständlich steht es jedem Anthroposophen persönlich frei, sich politisch zu engagieren, und es ist ja nur zu wünschen, dass auf diesem Wege der Geist möglichst vieler anthroposophischer Individualitäten der Welt Positives bringt. Nur: der umgekehrte Weg, die Politik in die Anthroposophische Gesellschaft hineinzuholen ist eine (anthroposophische) Unmöglichkeit und ruiniert diese und die Anthroposophie.
„Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend“
Oben angeführter in Punkt 4 der „Statuten“ ausgesprochene Satz zum Verhältnis der Anthroposophischen Gesellschaft zur Politik wird nicht begründet und auch im weiteren Verlauf der Weihnachtstagung (GA 260a) nicht näher erläutert. Die Gründe für diese strikte Trennung zwischen Anthroposophischer Gesellschaft und politischer Arbeit schienen damals so sonnenklar und auf der Hand zu liegen, dass sie keiner weiteren Erläuterung bedurften.
Man bedenke: Die Anthroposophie (neben anderen geistigen Bestrebungen) wäre im Sinne der sozialen Dreigliederung sicher nicht dem politischen oder Rechtsleben (oder gar dem Wirtschaftsleben) zuzuordnen. Das Verhältnis, das der einzelne Mensch zur Anthroposophie (wie zu jeder Art des geistigen Lebens) entwickeln kann, ist niemals ein Rechts- oder politisches Verhältnis, sondern auf persönlichen Bedarf und persönliche Einsicht gestellt. So sinnvoll es in der Politik und im Rechtsleben sein mag, dass Gesetze für alle gelten, so selbstverständlich muss jede wie auch immer geartete geistige Tätigkeit eine reine Privatangelegenheit sein und bleiben: „Denn im gesunden sozialen Organismus muss alles Geistesleben dem Staate und der Wirtschaft gegenüber in dem hier angedeuteten Sinn „Privatsache“ sein.“ … „Was jemand für sich im Gebiet des Geisteslebens treibt, wird seine engste Privatsache bleiben…“
Anmerkung: So weit geht für Rudolf Steiner der individuelle und private Charakter der geistigen Betätigung des Einzelnen, dass in diesem „gesunden sozialen Organismus“ nicht nur die Beschäftigung des einzelnen Menschen in dessen völlige persönliche Freiheit gestellt ist. Selbst das, was dieser einzelne aus seinen geistigen Fähigkeiten heraus anderen geben könnte, unterliegt keiner rechtlichen Verpflichtung der Gemeinschaft zu einer Entlohnung, sondern allein der freien Einsicht derer, die ein Bedürfnis nach dieser geistigen Leistung empfinden: „…was jemand (auf geistigem Gebiet; Anmerkung IH) für den sozialen Organismus zu leisten vermag, wird mit der freien Entschädigung derer rechnen können, denen das Geistesgut Bedürfnis ist. Wer durch solche Entschädigung innerhalb der Geistesorganisation das nicht finden kann, was er braucht, wird übergehen müssen zum Gebiet des politischen Staates oder des Wirtschaftslebens“ (GA 23).
Das geistige Leben, vor allem das der Anthroposophie, darf daher niemals von dem (in sich berechtigten) Leben der Politik und des Rechtslebens beeinflusst werden. Über geistige Angelegenheiten kann nicht (wie auch nicht in der Mathematik) über Abstimmungen und Mehrheitsbildungen „ganz demokratisch“ entschieden werden, sondern nur, indem der Einzelne etwas intuitiv erfassen kann. Kann er es nicht, ist es nicht die Aufgabe der Politik, durch ihre Massnahmen zu einer „Klärung“ der Sache beizutragen. Mehrheitsbeschlüsse, Kompromisslösungen, Lobbyarbeit, Gesetze und Verordnungen, mit denen in der Politik die Geschicke einer Gemeinschaft (heute mehr schlecht als recht) geregelt, beeinflusst, protegiert, behindert etc. werden, haben in der Anthroposophischen Gesellschaft nichts verloren. Es zeugt von einem mangelnden Sinn für das geistige Leben, wenn die Anthroposophie von deren Gesellschaft in die Nähe des politischen Lebens und deren Eigenheiten gerückt wird. Ein solches Verhalten kann für den, der wirklich eine „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ sucht, nur als Zumutung und Nötigung empfunden werden. Das Goetheanum verleugnet mit seinen politischen Bestrebungen seine eigenen anthroposophischen Grundlagen. So verwundert es nicht, dass eine „Firma“ (Anthroposophische Gesellschaft), die ihr eigenes Geschäft beziehungsweise „Produkt“ (Anthroposophie) vernachlässigt, vom „Kunden“ (den Menschen) immer weniger frequentiert wird. Die Berichte über den Rückbau der Anthroposophischen Gesellschaft (aufgrund mangelnder Mitglieder und deren Beiträge) belegen dies (Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, Nachrichten für Mitglieder 9/2010).