von Ingo Hagel
(4. Nov. 2011) Bereits hier auf Umkreis-Online habe ich beschrieben, dass unser Parlamentarismus (und mit ihr diese sogenannte Demokratie) bankrott ist. Zuweilen spülen die Medien neue Phänomene an den Strand des öffentlichen Bewusstseins, die nicht verlorengehen sollten. So berichtet die Berliner Morgenpost über den Berliner Bundestagsabgeordneten Frank Steffel, der als Mitglied des Finanzausschusses kurz vor der Abstimmung des Bundestages über den EFSF-Krisenfonds 1578 Seiten Aktenmaterial dazu auf den Schreibtisch gelegt bekommt, in der er „alles über die geplante Euro-Rettung nachlesen“ kann.
Als Frank Steffel Dienstag früh in sein Büro kommt, hat sich die Arbeit über Nacht verdoppelt. Zu den zwei dicken Leitz-Ordnern sind zwei weitere dicke Aktenordner hinzugekommen. Auf 1578 Seiten kann der Berliner Bundestagsabgeordnete der CDU alles über die geplante Euro-Rettung nachlesen. Seit zwei Jahren beschäftigt sich der Reinickendorfer Unternehmer als Mitglied des Finanzausschusses schon mit der Finanzkrise. „Doch in diesen Tagen wird man von den Ereignissen und politischen Fragestellungen überholt“, sagt Steffel. Zwei Stunden sind es noch bis zur Sitzung der Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Dort will Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Details der Überlegungen zur Erweiterung des Rettungsschirms erklären. Zwei Stunden, in denen ein Abgeordneter keine Chance hat, vier Aktenordner durchzuarbeiten. Selbst wenn er vom Fach ist.
Die Freie Welt wies auf ein Interview hin, das Abgeordneten Check dem Grünen MdB Hans-Christian Ströbele geführt hatte – der übrigens als einziger Abgeordneter der Grünen am 29. Okt gegen den zweiten Eurorettungsschirm EFSF gestimmt hatte. Es ist bizarr, was Ströbele dort über die Gepflogenheiten unseres Parlamentarismus in wichtigsten Angelegenheiten berichtet (Hervorhebungen IH):
Abgeordneten-Check.de: Haben Sie sich vom Bundestag ausreichend vor der EFSF-Abstimmung informiert gefühlt?
Hans-Christian Ströbele: Nein, davon kann keine Rede sein. Zehn Minuten vor der Fraktionssitzung habe ich erst die wesentlichen Texte erhalten (ob das wohl die oben erwähnten 1578 Seiten waren…. Anmerkung IH). Diese habe ich mir in der Nacht vor der Abstimmung durchgelesen. Das ist eine Zumutung! Man hat den Eindruck, der Großteil der Abgeordneten soll daran gehindert werden, sich eine eigene Meinung zu bilden.
…
Abgeordneten-Check.de: In welche Richtung entwickelt sich die Transparenz des deutschen und europäischen Regierungsapparats?
Hans-Christian Ströbele: Ich habe den Eindruck, je mehr an Kompetenzen nach Brüssel verlagert wird, desto schlechter werden wir hier in Berlin informiert. Wir werden hier wöchentlich mit hunderten Seiten Papier aus Brüssel „zugemüllt“, die man unmöglich gewissenhaft aufarbeiten kann. Es ist zuviel nicht aufbereitetes Material.
Ganz offensichtlich wird dies alles vorsätzlich betrieben, um die Souveränität der nationalen Parlamente auszuhebeln – entschieden wird dann in kleinen unkontrollierten Clubs, die ihre „alternativlosen“ Vorschläge dem Parlament zum Abnicken vorlegen. Einer dieser Clubs sollte zum Beispiel das neugeschaffene neunköpfige Sondergremium sein, das am 620köpfigen Bundestag und dem 41köpfigen Haushaltsaussschuss vorbei schnellere Entscheidungen über den Einsatz des Euro-Rettungsschirms EFSF fällen sollte. Allerdings erklärte das Bundesverfassungsgericht (nach einer Klage zwei SPD-Abgeordneten) dieses Gremium (vorerst) – für verfassungswidrig, es darf vorerst keine Entscheidungen fällen. „Verfassungsgericht stoppt Geheimgremium zur Euro-Rettung“ titelte der Spiegel.
Aber die Entmachtung der Politik, des Volkswillens (genannt Demokratie) geht noch weiter. Als der griechische Ministerpräsident Papandreou ein Referendum über die Milliardenhilfen der EU und den Sparkurs der griechischen Regierung ankündigte, herrschte bei den Führenden der EU blankes Entsetzen. Nach wenigen Stunden war alles vorbei, Papandreou zog die Volksabstimmung zurück. Die Deutschen Mittelstands Nachrichten sprachen von einer „Niederschlagung eines Referendums durch die EU“. Und die Nachdenkseiten schrieben dazu:
„Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit für unsere Kinder und Enkel erhalten“ – dieser Satz, gesprochen von Angela Merkel nach dem gestrigen Abendessen mit Nicolas Sarkozy und Giorgos Papandreou, beschreibt die politische Agenda der vermeintlichen Euroretter wohl besser, als es jeder ihrer Kritiker je könnte. Von Demokratie ist heute gar nicht mehr Rede. Die Interessen der gerne als „Finanzmärkte“ umschriebenen Spekulanten, der Groß- und Investmentbanken und Hedge-Fonds, bestimmen die Agenda. Was die Menschen wollen, spielt längst keine Rolle mehr. Die Märkte und ihre Interessen diktieren der Politik, wo es lang geht. Die Börsenkurse gelten dabei als Gradmesser des Erfolgs. So muss man sich wohl die „marktkonforme Demokratie“ vorstellen, die sich Angela Merkel auf ihre Fahnen geschrieben hat (s. dazu auch hier auf Umkreis-Online).
Frank Schirrmacher schrieb in der FAZ:
Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte und seit vierundzwanzig Stunden auch der Politik. Wir erleben den Kurssturz des Republikanischen. … Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen.
Nachdem die (eigentlich) Herrschenden bereits den Parlamentarismus ausgehebelt haben, hebeln sie nun den Wunsch der Griechen aus, eine Volksabstimmung zu bekommen. Dies wird auf Druck der EUrokraten einfach abgesagt. Dies muss durchaus als Wetterleuchten für das gesehen werden, was zum Beispiel der deutschen „Demokratie“ noch bevorstehen kann.
Es wird immer deutlicher, dass sich ein Parlament durch ihre Volksvertreter, die Abgeordneten, nicht mit allen Fragen, die mit Blick auf Politik, Wirtschaft, Verteidigung, Gesundheits- und Erziehungswesen etc. etc. sachgemäß und kompetent befassen und diese beurteilen kann. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein (in der Gesamtheit dieser Angelegenheiten immer fachfremder) Abgeordneter und damit das Parlament dazu in der Lage sein kann. Wir stehen an dem Punkt, an dem dieses immer klarer wird, und an dem Möglichkeiten und Perspektiven einer neuen sozialen Ordnung beziehungsweise einer neuen Rolle des Staates und seines Parlamentarismus diskutiert werden müssen.