Aus Nr. 192 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 253:
Heute vor acht Tagen habe ich hier versucht, von einem gewissen Standpunkte aus auseinanderzusetzen, warum die europäische Kultur heute vor einem Abgrunde steht, warum sie sich in den Niedergang hineinbewegt. Es ist in der Gegenwart zweifellos das Allerwichtigste, ein volles Bewusstsein davon sich anzueignen, welche Niedergangskräfte in dieser europäischen Kultur drinnen walten. Gerade in diesem Punkte ist es notwendig, dass man sich keinerlei Art von Illusion hingibt, denn das Hingeben an Illusionen ist es gerade, das uns in die gegenwärtige europäische Lage hineingebracht hat, das Hingeben an Illusionen, welche man eigentlich immer für einen Ausfluss wirklicher Praxis gehalten hat, und die doch eben nichts weiter sind als Illusionen, weil sie aus ganz engen Erfahrungsumrissen, aus ganz engen Erfahrungsflächen hergeholt sind, und weil sie absehen von einer wirklich durchdringenden Erfahrung. Es würde aber eine ganz falsche Art von Anschauung sein, wenn man meinen wollte, eine Kritik dieser Tatsachen reiche aus. Davon kann gar nicht die Rede sein, dass heute eine bloße Kritik dieser Dinge ausreicht. Man muss vielmehr sehen, welches der eigentliche historische, der geschichtliche Zusammenhang ist. Denn in einem gewissen Sinne wird man durch diesen geschichtlichen Zusammenhang erkennen, dass ein zeitweiliger Niedergang der europäischen Kultur gewissermaßen, wenigstens der Zeitströmung dieser Kultur nach, eine Notwendigkeit ist, eine ganz gesetzmäßige Notwendigkeit ist. Und zum Wiederaufbau wird man auf keine andere Weise kommen als dadurch, dass man diese Notwendigkeit einsieht und nicht bei einer bloßen Kritik stehenbleibt. Aber, wie gesagt, auch die innere Ehrlichkeit muss man haben, wirklich über Illusionen hinauszuwollen. Illusionen sind bequem für das augenblickliche Leben, oftmals aber sind sie zerstörend für die wirkliche Weiterentwickelung der Menschheit. Und ich möchte heute eine gewisse Betrachtung vor Ihnen anstellen, die sozusagen eine Art Resümee werden wird über dasjenige, was man sich seit Jahren hier auf geisteswissenschaftlichem Boden innerlich aneignen konnte, und was geeignet sein dürfte, über solche Illusionen der Gegenwart hinweg und zu den Realitäten zu führen. Was wir uns nämlich immer wiederum klar machen müssen, wenn wir vorurteilslos und unbefangen den eigentlichen Charakter unserer Gegenwartskultur betrachten, das ist, dass diese Gegenwartskultur ganz und gar beruht auf der Art des Denkens, Empfindens und Fühlens, die aus der naturwissenschaftlichen Weltanschauung fließen kann. Diese naturwissenschaftliche Weltanschauung hat auf dem Boden, für den sie geeignet ist, große, gewaltige Menschheitsfortschritte hervorgebracht, und es wäre höchst töricht, diese großen, gewaltigen Menschheitsfortschritte irgendwie abzukanzeln, abzukritisieren. Erst derjenige, der sie voll anerkennt, der von dieser Seite aus voll auf naturwissenschaftlichem Boden steht, hat ein Recht dazu, wie ich öfter gesagt habe, auch auf das andere hinzusehen, was naturwissenschaftliche Weltanschauung nicht geben kann. Was uns die Naturwissenschaft gibt, was sie im Grunde genommen einzig und allein nur sucht, ist ein Weltbild, das eben die Natur umfasst, das alles dasjenige umfasst, was man in seine Seele hineinbringt, wenn man mit der Sinnesanschauung die Natur überblickt und wenn man intellektuelle Kombinationen bildet aus den einzelnen Sinnesanschauungen. Gerade durch die Absonderung vom Menschen, durch die Absonderung alles desjenigen, was sich aus der Menschennatur selbst ergibt, ist diese naturwissenschaftliche Weltanschauung groß geworden. Das finden Sie des genaueren auseinandergesetzt in meinen beiden Büchern «Vom Menschenrätsel» und «Von Seelenrätseln».
Nun muss man auf der andern Seite aber auch einsehen, dass alles, was auf diese Art an naturwissenschaftlichen Anschauungen gewonnen werden kann, und wenn es noch so exakt ist – es soll in seiner Exaktheit gar nicht verkannt werden -, doch über das eigentliche Wesen des Menschen keinen Aufschluss geben kann. Warum das ist, Sie finden es auch begründet in den beiden eben genannten Büchern. Ich will aber hier nur das eine hervorheben: Diejenigen, die glauben, aus bloßer Naturanschauung in der Zukunft irgend etwas erringen zu können, was auch den Menschen selbst begreiflich macht, sie vermeinen, durch die Vervollkommnung der naturwissenschaftlichen Methoden nicht nur das Tote, das Unlebendige, sondern auch einmal das Lebendige begreifen zu können. Man meint einfach: Bis jetzt ist es nur gelungen, physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten zu durchschauen auf naturwissenschaftlichem Wege, das heißt dasjenige zu durchschauen, was in dem toten Stoff war; aber es werde gelingen, so glaubt man, durch die Fortsetzung dieser Art von Untersuchungen den Aufbau des Lebendigen aus seinen Bestandteilen zu durchschauen, und dann werde man auf naturwissenschaftliche Weise das Lebendige ergriffen haben. Das Gegenteil davon ist wirklich wahr. Wer hineinsieht gerade in das, wodurch die naturwissenschaftlichen Methoden groß sind – und sie sind groß -, der weiß, dass sie dadurch groß sind, dass sie sich auf das Begreifen des Toten, des Unorganischen beschränken, und dass, je mehr sie sich vervollkommnen, desto mehr auch sie sich entfernen werden von einer Anschauung des Lebendigen. Das heißt, je mehr wir auf naturwissenschaftlichem Boden fortschreiten, desto mehr entsinkt unseren forschenden Blicken das Lebendige und damit der erste Anfang zur Erkenntnis des Menschen. Dass diese Tatsache in der Gegenwart nicht nur eine wissenschaftliche, nicht nur gewissermaßen eine theoretische Angelegenheit ist, sondern dass diese Tatsache heute eine Kulturangelegenheit ist, darüber möchte ich eben in der heutigen Betrachtung einiges anführen.
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