Aus Nr. 180 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 246:
Dass der Mensch also, indem er die Geschichte durchlebt, sich hereinzuleben hat in die Geschichte göttlicher Kräfte und mit diesen göttlichen Kräften zusammen gegen widerstrebende geistige Mächte – er sagt ausdrücklich: widerstrebende geistige Mächte – kämpft, davon hatte er eine Ahnung, aber es fehlte jedes lebendige Bewusstsein. Denn die wirkliche Wissenschaft vom Geiste, die flieht man ja in gewisser Beziehung. Seit dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als im Abendlande entstanden ist das Vorurteil, wie man es nannte, gegen die Einrede der falschen Gnosis – so nannte man es: die Einrede der falschen Gnosis -, da kam man allmählich dazu, abzulehnen alles dasjenige, was der Mensch wissen kann über die geistigen Welten. Und so ist es denn gekommen, dass auch die religiösen Impulse den Materialismus zubereitet haben, dass diese religiösen Impulse nicht verhindern konnten, dass wir eigentlich heute nichts haben, was wir der Jugend wirklich geben können. Unsere Wissenschaft dient nicht der Jugend, denn man kann sich im späteren Alter nur an sie erinnern, sie kann nicht Herzensweisheit werden. Selbst auf religiösem Gebiete ist es so. Schließlich ist ja die Menschheit nur, ich möchte sagen, zu zwei Extremen gekommen. Den übersinnlichen Christus zu fassen hat ja die Menschheit ziemlich verlernt.
Sie will nichts wissen von jener kosmischen Macht, von der die Geisteswissenschaft wieder sprechen muss als der Macht des Christus Jesus. Auf der einen Seite ist ja eine ganz liebliche, wirklich liebliche Vorstellung all dasjenige, was sich im Laufe des Mittelalters und der neueren Zeit durch Dichter, durch Musiker entwickelt hat, eine liebliche poetische Vorstellung, was sich in Anlehnung an das Jesuskind entwickelt hat; aber, religiös ausfüllen kann es doch nicht den Menschen sein ganzes Leben hindurch, was sich an Vorstellungen anknüpft an das liebe Jesulein! Es ist ja schon charakteristisch, dass eine geradezu paradoxe Liebe in unzähligen Liedern und dergleichen für das liebe Jesulein sich ausdrückt. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, aber es kann nicht das einzige bleiben.
Das ist das eine, wo sich der Mensch, weil er sich zu dem Großen nicht erheben kann, an das Kleinste gemacht hat, um wenigstens etwas zu haben. Aber ausfüllen kann es das Leben nicht. Und auf der andern Seite der «bon dieu citoyen», wie wir ihn zu Weihnachten mit den Worten Heinrich Heines kennengelernt haben, der gute Bürgergott Jesus, der aller Göttlichkeit entkleidet ist, der Gott der liberalen Pastoren und liberalen Priester. Glauben Sie, dass er nun wirklich das Leben ergreifen kann? Glauben Sie insbesondere, dass er die Jugend gefangennehmen kann? Er ist vom Anfange an ein totes Theologieprodukt, nicht einmal ein Theologieprodukt, sondern ein Theologiegeschichteprodukt. Aber die Menschheit ist auch auf diesem Gebiete weit davon entfernt, die Blicke hinzurichten auf dasjenige, was geistige Macht in der Geschichte ist.
Warum ist das so? Weil eben eine Zeitlang die Menschheit das schon durchmachen musste, rein materiell in die Welt zu blicken. Es ist auch die Zeit herangekommen, wo die Umwandlung gerade des zur Spiritualität tauglichen Naturwissens der Gegenwart in Herzenswissen sich vollziehen muss. Unsere Naturwissenschaft ist entweder spottschlecht, wenn sie so bleibt, wie sie ist, oder sie ist etwas ganz außerordentlich Großartiges, wenn sie sich umwandelt in Herzensweisheit. Denn dann wird sie Geisteswissenschaft. Die alte, ältere Wissenschaft, die in mancherlei Traditionen befangen ist, hatte schon die Kopfwissenschaft in Herzenswissenschaft umgewandelt. Die neuere Zeit hat keine Begabung gehabt, das, was sie als Wissenschaft neu gewonnen hat bis jetzt, in Herzenswissenschaft umzuwandeln. Und so ist es denn gekommen, dass insbesondere auf sozialem Gebiete die Kopfwissenschaft die einzige wirkliche Arbeit geleistet hat und daher das einseitigste Produkt zustande gebracht hat, das es geben kann.
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