Aus Nr. 155 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 144:
Nun, ich möchte nicht bloß abstrakt Ihnen schildern, was ich zu sagen habe, ich möchte ausgehen zunächst von einer ganz konkreten Betrachtung. Ausgehen möchte ich davon, wie uns eine gewisse Szene des Mysteriums von Golgatha in geschichtlicher Überlieferung vor Augen steht, so wie sie sich eingeprägt hat und noch viel mehr einprägen sollte in die Herzen und in die Seelen der Menschen. Setzen wir einen Augenblick voraus, dass wir vor uns haben in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die wir öfter im Verlauf unserer geisteswissenschaftlichen Betrachtungen besprochen und charakterisiert haben; setzen wir voraus, dass wir in dem Christus Jesus dasjenige vor dem geistigen Auge haben, was uns Menschen im ganzen Weltenall als das Wichtigste erscheinen muss. Und dann stellen wir gegenüber dieser Empfindung, diesem Gefühl, das Schreien, das Wüten der aufgeregten Menge von Jerusalem vor der Kreuzigung, bei der Verurteilung. Stellen wir uns vor das geistige Auge die Tatsache, dass der Hohe Rat in Jerusalem vor allen Dingen es für sehr wichtig hält, an den Christus Jesus die Frage zu stellen nach dem, wie er es mit dem Göttlichen halte, ob er sich bekenne als den Sohn des Göttlichen. Und fassen wir ins geistige Auge, dass der Hohe Rat dieses für die größte Lästerung hält, die der Christus Jesus hat aussprechen können. Halten wir uns weiter vor Augen, dass eine Szene vor uns steht, geschichtlich, in der das Volk schreit und wütet nach dem Tode des Christus Jesus. Und versuchen wir nun einmal, uns zu vergegenwärtigen, was dieses Schreien und Wüten des Volkes historisch eigentlich bedeutet. Fragen wir uns einmal: Was hätte denn dieses Volk erkennen sollen in dem Christus Jesus?
Erkennen hätte es sollen in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die dem Erdenleben Sinn und Bedeutung gibt. Erkennen hätte es sollen in dem Christus Jesus diejenige Wesenheit, die zu vollbringen hat die Tat, ohne welche die Erdenmenschheit den Weg zum Göttlichen nicht wiederfinden kann. Erkennen hätte es sollen, dass der Sinn des Erdenmenschen nicht da ist ohne diese Wesenheit. Ausstreichen hätten die Menschen müssen von der Erdenentwickelung das Wort «Mensch», wenn sie hätten ausstreichen wollen das Christus-Ereignis.
Nun stellen wir uns vor, dass diese Menge diejenige Wesenheit verurteilt, über diejenige Wesenheit wütet, welche den Menschen auf Erden eigentlich zum Menschen macht, welche der Erde ihr Ziel und ihren Sinn geben soll. Was liegt darinnen? Liegt darinnen nicht, dass die Menschheit in ihrer Erdenentwickelung damals angekommen war an einem Punkt, gegenüber dem man sagen kann: In denjenigen, die dazumal in Jerusalem die Vertretung der menschlichen Erkenntnis über das wahre Wesen der Menschen hatten, war verdunkelt die Erkenntnis des Menschen, die wussten nicht, was der Mensch ist, was der Mensch soll auf der Erde. Nichts Geringeres ist uns gesagt, als dass die Menschheit an einem Punkt angekommen war, wo sie sich selbst verloren hatte, wo sie dasjenige verurteilte, was ihr Sinn und Bedeutung in der Erdenentwickelung gibt. Und aus dem Schreien der aufgeregten Menge könnte man heraushören das, was allerdings nicht aus Weisheit, sondern aus Torheit gesprochen ist: Wir wollen nicht mehr Mensch sein, wir wollen von uns stoßen, was uns weiter Sinn gibt als Menschen.
Wenn man dies alles so bedenkt, dann steht uns doch in einer etwas anderen Weise als sonst vor dem geistigen Auge das, was man zum Beispiel im Sinne des paulinischen Christentums «das Verhältnis des Menschen zur Sünde und zur Schuld» nennt. Dass der Mensch im Verlauf seiner Entwickelung in Sünde und Schuld verfallen konnte, die er nicht selbst von sich wiederum wegwaschen konnte, das meint ja Paulus. Und dass es dem Menschen möglich werde, Sünde und Schuld und damit alles dasjenige, was für ihn mit Sünde und Schuld zusammenhängt, von sich abzuwaschen, dazu musste der Christus auf die Erde kommen. Das ist des Paulus Meinung. Und man möchte sagen: Braucht diese Meinung irgendeinen wirklichen Beleg, so ist dieser Beleg gegeben in dem Wüten und Schreien derjenigen, die da rufen: «Kreuziget ihn!» Denn in diesem Rufe liegt, dass die Menschen nicht wussten, was sie selbst auf Erden zu bedeuten haben, dass ihre frühere Entwickelung dahin gezielt war, Finsternis zu verbreiten über ihr Wesen.
Damit sind wir aber auch bei dem angekommen, was man nennen könnte «die vorbereitende Stimmung der Menschenseele zu der Christus-Wesenheit». Diese vorbereitende Stimmung der Menschenseele zu der Christus-Wesenheit, sie besteht darinnen, dass die Seele — wenn sie das auch nicht mit klaren Worten aussprechen kann — fühlt durch das, was sie in sich erleben kann: Ich habe mich so entwickelt seit Erdenanbeginn, dass ich durch das, was ich in mir selbst habe, mein Entwickelungsziel nicht erreichen kann. Wo ist etwas, woran ich mich klammern kann, was ich in mich hereinnehmen kann, damit ich mein Entwickelungsziel erreiche? Sich so fühlen, als ob das menschliche Wesen weit über das hinausginge, was die Seele durch ihre Kraft zunächst wegen ihrer bisherigen Erdenentwickelung erreichen kann, das ist die vorbereitende christliche Stimmung. Und wenn dann die Seele das findet, was sie mit ihrer Wesenheit notwendig verbunden wissen muss, wozu sie aber die Kraft nicht in sich selbst findet, wenn dann die Seele das findet, was ihr diese Kräfte gibt, dann ist dieses Gefundene der Christus. Dann entwickelt die Seele ihr Verhältnis zu dem Christus, dann steht die Seele auf der einen Seite so, dass sie sich sagt: Im Erdenanbeginn ist mir eine Wesenheit vorherbestimmt gewesen, die in mir verfinstert worden ist im Laufe der Erdenentwickelung, und blicke ich jetzt in diese verfinsterte Seele, so fehlen mir die Kräfte, diese Wesenheit zu verwirklichen. Aber ich wende den geistigen Blick hin zu dem Christus, der gibt mir diese Kräfte. — Da steht denn die menschliche Seele, indem sie einerseits in der geschilderten Art dasteht, und auf der anderen Seite den Christus an sich herankommen fühlt, wie in einem unmittelbaren persönlichen Verhältnis zu dem Christus. Da sucht sie den Christus und weiß, dass sie ihn nicht finden kann, wenn er sich nicht durch die menschliche Entwickelung der Menschheit selbst gibt, wenn er nicht von außen an sie herankommt.
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