Aus Nr. 186 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 307:
Ich habe oftmals gesagt: Es ist kein Grund vorhanden, sich in leichter Weise über das Unglück der Zeit zu trösten oder etwa gar die Augen davor zu schließen. Es ist aber auch kein Grund zum Pessimismus vorhanden. Man braucht nur folgendes zu bedenken: Ungeheuer Schreckliches hat sich abgespielt im Laufe der letzten viereinhalb Jahre über die Erde hin; aber was ist das Wesentliche in diesem Schrecklichen? – Das, was Menschenseelen in dieser Zeit erfahren haben, das ist das Wesentliche, in ihr erfahren haben natürlich mit Bezug auf die Entwickelung dieser Menschenseelen in der ganzen Erdenentwickelung. Da aber taucht dann eine sehr bedeutungsvolle, eine inhaltschwere Frage auf. Diese Frage ist paradox, aber nur deshalb, weil sie eben inhaltschwer und dem gewöhnlichen Denken ungewohnt ist, die Frage: Kann man denn eigentlich wünschen, dass die Menschheit ohne eine solche Katastrophe einfach so hätte fortleben sollen, wie sie sich gewöhnt hatte, bis zum Jahre 1914 zu leben? Kann man das eigentlich so ohne weiteres wünschen? – Ich darf bei der Aufwerfung einer solchen Frage immer wieder auf das hinweisen, was ich vor dem Ausbruch dieser kriegerischen Katastrophe in meinem Zyklus in Wien gesagt habe: dass, wenn man überschaut, was in der Menschenwelt lebt, sich das Verhältnis der Menschen untereinander, das soziale Leben wie ein soziales Karzinom ausnimmt, wie ein durch die Menschheit schleichendes Krebsgeschwür. Die Menschen haben allerdings die Augen zugemacht vor diesem Karzinom der sozialen Gemeinschaft. Sie wollten nicht hinschauen auf die tatsächlichen Verhältnisse. Aber niemand kann, wenn er die Dinge im Tiefsten schaut, sagen, dass es gut für die Menschheit gewesen wäre, wenn sie so fortgefahren wäre. Sie wäre auf dem Wege, den ich angedeutet habe, hinweg vom Geiste immer weiter talab gekommen. Und diejenigen, zu denen wir mit so schmerzvoller Seele hinschauen, die Millionen, die von diesem physischen Plane hinweggefegt worden sind durch diese fürchterliche Katastrophe, die jetzt als Seelen leben, sie sind es, die am allermeisten bedenken, wie ihre Lage anders ist, jetzt, da sie den Rest ihres Lebens in der geistigen Welt durchmachen, und wie diese Lage anders wäre, wenn ihr Karma sie weiter auf der physischen Erde erhalten hätte.
Sub specie aeterni, unter dem Gesichtswinkel der Ewigkeit nehmen sich die Dinge doch anders aus. So etwas muss ausgesprochen werden. Die Dinge dürfen nur nicht leichtfertig und leichtgeschürzt genommen werden. Ebenso, wie es wahr ist, dass es unendlich traurig ist, dass diese Katastrophe hereingebrochen ist, ebenso wahr ist es, dass durch diese Katastrophe die Menschheit bewahrt worden ist vor einem furchtbaren Versinken in Materialismus und Utilitarismus. Wenn sich auch das heute noch nicht zeigt, aber es wird sich zeigen, es wird sich vor allen Dingen zeigen in den Mittelländern und im Osten, wo sich statt einer Ordnung, die den Materialismus in sich aufgenommen hatte, ein Chaos entwickelt. Man kann gewiss nicht ohne den Unterton des Leidens sprechen über dieses Chaos, das über die Mittelländer und über die Länder des Ostens hereingebrochen ist, und das in äußerer Beziehung wenig Aussicht bietet, sich bald irgendwie in eine Harmonie umzugestalten. Aber ein anderes liegt vor. Da, wo dieses Chaos sich ausbreitet, da wird eine Welt sein, die durch den äußeren physischen Plan den Menschen in der nächsten Zukunft möglichst wenig geben wird. Die Segnungen des physischen Planes werden nicht groß sein in den Mittelländern und in den Ostländern. Alles das, was dem Menschen werden kann dadurch, dass er sein Dasein trägt durch äußere Gewalten, das wird nicht viel sein. Der Mensch wird sich im Innern seiner Seele fassen müssen, um festzustehen. Und bei diesem Sichfassen im Innern, um festzustehen, wird er den Ansatz machen können zum Wege in die geistige Welt hinein. Er wird den Entschluss fassen können, zum Geiste hinzugehen, von dem allein das Heil der Zukunft kommen kann. Denn das ist das Wesentliche für die Zukunft, dass uns gewissermaßen unser äußeres Leibliches entgleitet, dass unser äußeres Leibliches – ich führte es gestern aus – nicht mehr so gesund ist, als es in vergangenen Zeiten war, dass es mehr Tod in sich hat, als es in vergangenen Zeiten hatte. Und der Impuls für die Einsicht, dass nicht mit dem, womit unser Leibliches verbunden ist, des Weltenrätsels Inhalt gefunden werden kann, sondern dass hinaufgestiegen werden muss in geistige Welten, der Impuls dazu, auch die soziale Ordnung aus geistigen Welten zu holen, er wird sich ergeben, wenn man möglichst wenig in der physischen Welt finden kann. Diese physische Welt wird eine Gestaltung der Harmonie nur annehmen können, wenn sie diese Gestaltung aus dem geistigen Leben heraus sucht. Die Bibel erzählt auf ihren ersten Seiten nicht, dass es Ahriman oder Luzifer waren, die die Menschen aus dem Paradiese vertrieben haben, sondern dass es der Jahve-Gott selber war, der die Menschen aus dem Paradiese vertrieben hat. Aber wir wissen auch, dass diese Vertreibung aus dem Paradiese das Freiwerden des Menschen, das Erleben der Freiheit für die Menschen bedeutet, indem die Möglichkeit, der Keim zur Freiheit dadurch gelegt wurde. Müsste es denn durchaus wider diese biblische Weisheit sein, wenn gesagt würde: Auch göttliche Weisheit war es, die die Menschen herausgetrieben hat aus der in Materialismus und Utilitarismus hineinführenden Gegenwart zu Keimen, deren geistige Erfassung der Welt nützen sollen? Und aus den schmerzlichen Untergründen der letzten viereinhalb Jahre tönt es gleichsam herauf: Geistiges will sich offenbaren durch die Schleier der äußeren Erscheinungen; Menschen sollen lernen durch das Unglück, auf diese geistigen Offenbarungen hinzuschauen, und es wird zu ihrem Heile sein. Auch das ist eine Sprache, die paradox klingt für manche Menschen der Gegenwart; aber es ist die Sprache, die der Christus in unseren Zeiten uns anleitet zu sprechen. Denn im Fortschritt des Christentums muss es gelegen sein, die christlichen Wahrheiten in einer neuen Weise zu fassen. Das kann nur geschehen, wenn sie geistig gefasst werden. Das Mysterium von Golgatha ist ein geistiges Ereignis, das in die Erdenentwickelung eingegriffen hat. Vollständig verstanden werden kann es nur mit geistiger Erkenntnisweise. Und so werden wir, wie die Menschheit im Grunde durch Unglück den Christus gefunden hat, durch Unglück auch den Christus in der neuen Auffassungsweise und Gestalt zu suchen haben.
Gewiss ist das, was so gesprochen wird, nicht ein Alltagstrost. Aber wenn man von aller Trivialität sich fernhalten will, so ist es im tieferen Sinne des Wortes vielleicht doch etwas Trost, vielleicht der einzige, der der Menschenwürde heute in unserer Zeit angemessen ist. Es ist allerdings ein Trost, der die Menschen nicht hinweist darauf: Wartet, und es wird euch ohne euer Zutun alles Göttliche beschieden werden, sondern ein Trost, der die Menschen darauf hinweist: Wendet an eure Kräfte, und ihr werdet finden, dass in euren Seelen der Gott spricht und kraftet, und dass ihr durch den in euren Seelen sprechenden und kraftenden Gott auch den Gott in der Welt finden werdet, und mit dem Gotte, was die Hauptsache ist, in der Welt in Gemeinsamkeit werdet wirken können! – Von dem bloß passiven Verhalten zu den übersinnlichen Einsichten muss abgegangen werden. Der Mensch muss sich aufraffen, um sich innerlich zu finden, und mit diesem innerlichen Finden sich als ein Glied in der Weltenordnung erkennen. Da mögen sich dann diejenigen Bekenntnisse, die es dem Menschen bequem machen sollen, indem sie – ich meine das bildlich – zuerst seinen Geist einlullen in Weihrauch, damit er dann passiv, ohne sein Zutun, den Weg zum Göttlichen finde, aufbäumen. Diese Bekenntnisse, die sich so an die Bequemlichkeit des Menschen wenden, sie werden sich immer aufbäumen gegen die Forderung, die jetzt herausspringt aus den geistigen Welten, dass der Mensch seinen Wert suche in innerer Aktivität, in innerer Tätigkeit, im wirksamen inneren Entwickeln des geistigen Lebens!
Das muss sein, insbesondere wenn dem Rechnung getragen werden soll, was in mancherlei Maskierung und Vermummung auftritt: der sozialen Forderung unserer Zeit. Ich habe schon in diesen Wochen darauf hingewiesen: Wir leben, wenigstens ein großer Teil unserer gebildeten Menschen, von den Errungenschaften der griechischen Kultur. Wir bedenken nur nicht immer, dass dasjenige, in dem wir so leben, dadurch geschaffen worden ist, dass diese griechische Kultur sich auf der Grundlage der Sklaverei entwickelt hat, dass ein großer Teil der Menschen als Sklaven leben musste, damit das, was wir heute als die Segnungen der griechischen Kultur empfinden, überhaupt vorhanden sei. Wenn man sich aber so recht klarmacht, dass alles das, was griechische Kunst, was die schöne Erinnerung an griechisches Leben, was griechische Wissenschaft bedeutet, und manches andere noch auf dem Grunde der Sklaverei entstanden ist, dann fragt man sich mit einer anderen Intensität: Was hat es denn bewirkt, dass wir nicht mehr so denken wie die großen Philosophen Plato und Aristoteles gedacht haben: dass die Sklaverei etwas ganz Selbstverständliches ist? Damals war es selbstverständlich für die weisesten der Menschen, dass neun Zehntel der Menschheit als Sklaven leben mussten. Das ist für uns heute nicht mehr selbstverständlich, sondern wir betrachten es als eine Verletzung der Menschenwürde, wenn jemand so denkt. Was hat es innerhalb der abendländischen Menschheit bewirkt, dass so das Vorstellungsvermögen der Menschen umgeartet worden ist? – Das Christentum! Das Christentum hat die Menschen entsklavt, das Christentum hat sie dazu geführt, wenigstens im Prinzip den Satz anzuerkennen: Die Menschen sind in bezug auf ihre Seele gleich vor Gott. Das aber hat auch die Sklaverei ausgeschlossen aus der sozialen Ordnung der Menschen. Aber wir wissen: Es hat eines gelassen, auf das wir von den verschiedensten Gesichtspunkten immer wieder hinweisen müssen, es hat bis in unsere Zeit herein die Auffassung gelassen, von der ich Ihnen gesagt habe, dass sie gerade das Punctum saliens ist in dem Bewusstsein des Proletariers: dass in unserer sozialen Ordnung ein Teil des Menschen, und noch dazu ein im Leib sich Abspielendes vom Menschen als Ware gekauft und von ihm selbst verkauft werden kann. Das ist ja das Aufreibende und Aufregende.
Das ist eigentlich das Punctum saliens der sozialen Frage, dass Arbeitskraft bezahlt werden kann. Es ist auch das, was auf dem Grunde unserer ganzen sozialen Gemeinschaft lässt den Charakter des Egoismus; denn Egoismus muss herrschen in der sozialen Ordnung, wenn der Mensch für das, was er für sich braucht, sich seine Arbeit bezahlen lassen muss. Er muss erwerben für sich. Was als nächste Etappe nach der Überwindung der Sklaverei überwunden werden muss, das ist, dass eines Menschen Arbeit Ware sein kann! Das ist das wirkliche Punctum saliens der sozialen Frage, die das neue Christentum lösen wird. Und ich habe Ihnen einiges vorgetragen von den Lösungen der sozialen Frage, denn jene Dreigliederung der sozialen Ordnung, von der ich Ihnen gesprochen habe, die löst die Ware von der Arbeitskraft ab, so dass die Menschen in der Zukunft nur Ware, nur äußeres Erzeugnis, nur vom Menschen Abgesondertes kaufen und verkaufen werden, dass aber der Mensch, wie ich es schon dargestellt habe in dem Aufsatz «Geisteswissenschaft und soziale Frage», der 1905 erschienen ist, aus Bruderliebe für den anderen Menschen arbeiten wird.
Es mag ein weiter Weg sein, um das zu erreichen, doch nichts wird die soziale Frage lösen als einzig und allein dieses. Und wer heute nicht daran glaubt, dass es nur so kommen müsse in der Weltenordnung, der gleicht dem, der zur Zeit des entstehenden Christentums gesagt hätte: Sklaven muss es immer geben. So, wie ein solcher dazumal unrecht gehabt hätte, so hat heute derjenige unrecht, der da sagt: Arbeit muss immer bezahlt werden. Damals konnte man sich nicht denken, dass nicht eine Anzahl von Menschen Sklaven sein müssen, nicht Plato, nicht Aristoteles konnten es sich denken. Heute können sich die gescheitesten Menschen nicht denken, dass man eine soziale Struktur haben kann, in der die Arbeit noch ganz andere Geltung hat, als wenn sie «bezahlt» wird. Natürlich wird auch dann aus Arbeit ein Produkt hervorgehen, aber das Produkt wird das einzig und allein zu Kaufende und zu Verkaufende sein. Das wird sozial die Menschen erlösen.
Um diese Dinge einzusehen, dazu gehört schon Anschauungserkenntnis, Anschauungslogik. Aber ohne diese Anschauungslogik kommt die Menschheit nicht vorwärts, denn sie ist das Heizmaterial für das, was in der Zukunft kommen muss unter die Menschen: die aus dem Verständnis von Mensch zu Mensch entstehende Menschenliebe. Und so sonderbar es klingt, heute, wo allerlei atavistische Reste nach der einen oder nach der anderen Seite in den Menschen vorhanden sind, heute wird alles noch mit Sympathie und Antipathie angesehen. Wenn zum Beispiel so etwas auseinandergehalten wird, wie ich es vor einiger Zeit hier getan habe, wo ich sagte: Von den drei Gliedern der Menschennatur sind die westlichen Völker berufen, gerade die Unterleibsnatur besonders auszubilden, die mittleren Völker die Herznatur, die östlichen Völker die Kopfnatur, dann werden solche Sachen heute noch vielfach «bewertet»; wenigstens irgendwo in seinem Innern hat der Mensch immer noch so ein kleines Kästchen, wo er die Sachen bewertet. Diese Bewertung muss aufhören; denn gerade dieses Anschauen der Differenzierung über das Erdenrund hin wird die verständnisvolle Liebe begründen. Aus dem Verständnis, nicht aus dem Unverstand wird im Zeitalter der Bewusstseinsseele die wirkliche, über die ganze Erde hin gehende Menschenliebe hervorkommen. Dann wird man verstehen, sich in dem Christus über die ganze Erde hin zu finden. Der Christus ist keine Angelegenheit eines oder des anderen Volkes; der Christus ist eine Angelegenheit der ganzen Menschheit. Aber um ihn als Angelegenheit der ganzen Menschheit zu erkennen, muss manche Illusion schwinden, müssen die Menschen wirklich aufsteigen können dazu, ohne Illusion in die wahre Wesenheit der Dinge hineinzuschauen. Das wollen heute die Menschen auf den verschiedensten Gebieten nicht. Ich weiß aber, dass ich nur eine Weihnachtsfriedenssache ausspreche, wenn ich das folgende Paradoxon vor Sie hinstelle. Sie wissen, ich rede nicht von den einzelnen Menschen, sondern von Volkstümern, wenn ich von diesen Differenzierungen rede. Man kann diese Dinge leicht missverstehen, wenn man nicht guten Willens ist. Aber ich mache ja so oftmals darauf aufmerksam, dass nicht gemeint ist die einzelne Menschenindividualität, die herauswächst aus dem Volkstum, sondern dass eben die Volkstümer gemeint sind. Das bitte ich zu berücksichtigen, wenn ich das Folgende sage.
Betrachten wir einmal das eine oder das andere von den Urteilen, die in den letzten vier Jahren gefällt worden sind über die Reiche oder die Staaten der europäischen Mitte. Ich will, weil ich solche Stimmungen vollständig verstehen kann, nicht im geringsten irgend etwas sagen gegen die Entente-begeisterten Menschen. Das liegt mir ganz fern. Jeder hat seine Meinung, sie ist von einem gewissen Gesichtspunkt aus berechtigt. Aber man kann nun den Blick wegwenden von dieser Meinung, die in den verflossenen Jahren vorhanden war, und kann die Fortsetzung dieser Meinung in der Gegenwart ins Auge fassen. Da wird man vielleicht doch manches recht unverständlich finden können. Man wird sich fragen können: Ist es denn notwendig, dass dieselben Urteile, die man gefällt hat, solange die Machthaber der Mittelstaaten vorhanden waren und noch die Macht hatten, dass die sich nun fortsetzen? Ja, dass man in raffinierter Weise alles tut, um diese Ansichten fortsetzen zu können? Ist es denn notwendig? Ist das ebenso erklärlich? Es ist gewiss von obenhin angesehen nicht so erklärlich, wie manches früher erklärlich war. Aber tiefer angesehen ist es doch erklärlich. Tiefer angesehen ist es erklärlich, nicht aus dem einzelnen Menschen heraus – die einzelnen Menschen werden in den Westländern auch die Gesundung dieser Verhältnisse herbeiführen -, aber diejenigen Menschen, die bloß aus den Volkstümern heraus urteilen oder aus Vorurteilen für diese Volkstümer urteilen, diese Menschen, die haben in ihrem Unterbewussten etwas, das in der folgenden Art charakterisiert werden kann.
Ich habe vor einigen Wochen hier ausgeführt, dass in unserer Weltanschauung, namentlich in unserer Vorstellungsart in der Gegenwart noch vieles Alttestamentliche lebt, dass der eigentliche Nerv des Christentums doch noch wenig eingezogen ist. Das Eigentümliche des Jahve-Dienstes besteht ja darin, dass er alles dasjenige betrifft, was wir nicht zwischen Geburt und Tod uns anerziehen, sondern was wir ererbt mitbekommen, was in unserem Blute liegt, und was sonst nur Einfluss hat, während wir schlafen, wenn wir aus unserem Leibe heraußen sind. Diese Jahve-Anschauung pulsiert noch vielfach in unserer Zeit. Sie kann zur Christus-Anschauung nur dann sich erheben, wenn man hinblickt mit aller Kraft auf die Erwerbung der geistigen Welt im intellektualistischen Zeitalter, nicht durch Geburt oder durch dasjenige, was uns mit der Geburt eingegeben ist, sondern was uns anerzogen wird. Durch die Natur selber ist nicht der Westen prädestiniert, vom Jahve-Dienst überzugehen zum Christus-Dienst, sondern es beginnt die Prädestination erst in der Mitte von Europa und geht nach dem Osten hin; das gilt selbstverständlich für das Volkstum, nicht für den einzelnen Menschen. Daher jene eigentümliche, noch ganz im alttestamentlichen Vorstellen ruhende Art des Wilsonistischen Denkens, das eigentlich so auftritt, dass es, wenn es das auch in Abrede stellt, ausrotten will das, was in den Mittelländern und im Osten geistig emporkommen will. Deshalb ist es so unerklärlich in der Gegenwart, nachdem man ja hinweggeschafft hat, was man vorgab, hinwegschaffen zu wollen, nachdem nunmehr übriggeblieben sind die Völker, denen man, wie man versichert hat, nichts Arges antun will, dass man dieselbe Gesinnung unter allerlei Vorwänden fortsetzt.
Man setzt es fort, weil man sich eigentlich wehrt gegen das, was in den Mittelländern und im Osten im Laufe der letzten Jahrhunderte als der Menschheit doch notwendig in geistiger Entwickelung aufgetreten ist. Man möchte unterbewusst das auslöschen. Man möchte sich nicht einlassen auf diese Dinge.
Nun leben wir in einer sehr bedeutsamen Weitenkrisis. Ich habe oft fragen gehört: Wie kommt es denn eigentlich, dass die Menschen des Westens, namentlich Engländer und Franzosen, die Deutschen so furchtbar hassen? – Es gibt eine sehr einfache Antwort darauf, sie ist aber wirklich erschöpfend und sie besteht darin, dass der Mensch sich selber immer anders anschaut, namentlich auch als Volksangehöriger, als er den andern anschaut. Und ich kann Ihnen die Versicherung geben, solche Gedanken, wie Mach sie gehabt hat, als er in den Omnibus eingestiegen ist, oder als er auf der Straße gegangen ist, die liegen in dem Unterbewussten der Menschen sehr häufig. Sie wissen, Mach erzählt selbst: Er stieg einmal sehr ermüdet in einen Omnibus und bemerkte nicht, dass da ein Spiegel war an der Wand, die der Eingangstüre gegenüber war. Da setzte sich von der anderen Seite ein anderer herein. Da dachte er: Was ist denn das für ein grässlicher Schulmeister, der da einsteigt vis-ä-vis? – Er war nämlich sich selber fremd, er kannte sich als Person so wenig; aber als er sich sah, war er sich gar nicht sympathisch.
Nun sehen Sie sich die Geistesgeschichte Mitteleuropas an, nicht in den intimeren Zügen, aber sehen Sie sie sich an im großen und ganzen. Bis zu Lessing, also bis weit in das letzte Drittel des achtzehnten Jahrhunderts hinein haben die Deutschen sich bemüht, so zu sein wie die Franzosen. Sie sehen es ja aus allem. Von einem gewissen Zeitpunkt an, der liegt ungefähr im zwölften Jahrhundert, bis in die Zeit weit über die Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts haben die Deutschen sich bemüht, so zu sein wie die Franzosen, es so zu machen, dass sie auch Franzosen würden. Was die Franzosen dann an sich nicht sahen, oder wenn sie es sahen, doch eher schätzten, das hassten sie furchtbar, wenn sie es in der Nachahmung sahen. Der Mensch übt nämlich unbewusst eine merkwürdige Selbsterkenntnis. Die Deutschen wurden im Grunde genommen in ihrem tiefsten Wesen von den Franzosen nie gehasst, sondern die Franzosen hassten sich selber, indem sie ihr Abbild, ihr Spiegelbild aus der deutschen Seele heraus ansahen. Seit jener Zeit hat begonnen ein merkwürdiger, heute noch gar nicht genug gewürdigter englischer Einfluss. Die Engländer sehen sich selber natürlich ebensowenig, wie Mach sich gesehen hat, aber sie bemerken sich, wenn sie sich nun in jenem Spiegelbilde schauen, das in merkwürdiger Weise seit dem achtzehnten Jahrhundert in die deutsche Seele eingezogen ist. Sie beurteilen den Engländer im Deutschen. Das ist die einfache psychologische Lösung. Wäre diese Weitenkrisis nicht gekommen, so würde noch lange Zeit dieser Zustand gedauert haben, es wäre eigentlich ein großer Brei da, aus dem die einzelnen Individualitäten dann herauskämen, die allerdings die Intimitäten des deutschen Wesens haben würden. Aber das Unglück, das Chaos, wird aus der Weltenkrise heraus gerade das erstehen lassen, was erstehen soll, was immer da war, was nur unter der Macht des Westens sich nicht entfalten konnte. So liegen die wirklichen Tatsachen. Es ist kein Grund zum Pessimismus, auch in Mitteleuropa nicht. Aber man muss dann zu den tieferen Gründen hinuntersteigen, die dem Werden zugrunde liegen.
Dasjenige, was die Ententemächte jetzt ausführen, das mag so oder so aussehen. Darauf kommt furchtbar wenig an, denn im Grunde ihres Herzens wollen sie etwas Unmögliches. Sie wollen verhindern, dass etwas heraufkommt, was sich in der Mitte Europas und im Osten entwickeln muss. Das aber hängt zusammen mit dem geistigen Fortschritt der Menschen. Der ist nicht zu verhindern. Aber es ruft das andere hervor, dass der Mensch, wenn er es mit der Erdenzukunft ernst meint, an den Geist eben glauben muss. Nur aus dem Geiste, aus der Kraft des Geistes wird dasjenige kommen, was kommen muss, auch zur Lösung der so brennenden sozialen Forderung. Es war notwendig, dass im Maschinenzeitalter fünf mal hundert Millionen unsichtbare Menschen, das heißt, als Maschinen sichtbare Menschen, entstanden sind, damit allmählich die Menschen fühlen lernen: Sie dürfen nicht so bezahlt werden, wie die Maschinen bezahlt werden.
Und es war notwendig, dass diese furchtbare Katastrophe, in der das Maschinenzeitalter seine größten Triumphe gefeiert hat, heraufgekommen ist. Aber aus dieser Katastrophe wird aufstehen Kraftentfaltung der Menschen. Und aus dieser Kraftentfaltung wird der Mensch auch eine gewisse Möglichkeit schöpfen, sich wiederum recht mit dem Göttlichen, mit dem Geistigen zu verbinden. Ebensowenig, wie es für den Menschen ein bloßes Unglück war – um jetzt den Ausgangspunkt der Erdenentwickelung mit dem zu vergleichen, was ja viele Menschen mit Recht das furchtbarste Ereignis in der Weltgeschichte nennen -, dass die Menschen aus dem Paradiese vertrieben worden sind, so ist es nicht ein bloßes Unglück, dass eine solche Katastrophe die Menschen betroffen hat. Die wertvollsten Wahrheiten sind schließlich im Grunde genommen paradox. Man kann heute ja – ich habe öfter auf diese Sache aufmerksam gemacht – sagen: Die Menschen waren so schändlich, das wertvollste Wesen, das auf der Erde erschienen ist, den Christus Jesus, ans Kreuz zu schlagen. Sie haben ihn getötet. Man kann sagen: Es war «schändlich» von den Menschen. Aber dieser Tod, der ist ja der Inhalt des Christentums. Durch diesen Tod ist ja das geschehen, was wir das Mysterium von Golgatha nennen. Ohne diesen Tod gäbe es kein Christentum. Dieser Tod ist das Glück der Menschen, dieser Tod ist die Kraft des Erdenmenschen. So paradox sind die Dinge der Wirklichkeit. Man kann auf der einen Seite sagen: Es war schändlich, dass die Menschen den Christus ans Kreuz geschlagen haben – und dennoch ist mit diesem Tode, mit diesem Ans-Kreuz-Schlagen, das größte Erdenereignis eingetroffen. Ein Unglück ist nicht immer bloß ein Unglück. Ein Unglück ist oftmals der Ausgangspunkt für das Erringen menschlicher Größe und menschlicher Stärke.
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