Aus Nr. 194 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 232 (Hervorhebungen IH):
Nietzsche hat in eines seiner ersten Bücher dasjenige Wort geschrieben, das ich wieder zitiert habe in meinem Nietzsche-Buch gleich auf den ersten Seiten, und mit dem geahnt wird etwas wie die Tragik des deutschen Geisteslebens. Nietzsche versuchte dazumal in seiner Schrift «David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller» die Ereignisse von 1870/71, die Begründung des Deutschen Reiches zu charakterisieren mit dem Wort: «Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches». Seither ist dieser Kehlkopfschnitt des deutschen Geistes gründlich durchgeführt worden. Und als in den letzten fünf bis sechs Jahren drei Viertel der Welt über dieses ehemalige Deutschland sich hermachten – ich will nicht über die Ursachen und über die Schuldigen sprechen, sondern eben nur die Konfiguration, die Weltlage angeben -, da war es im Grunde genommen schon der Leichnam des deutschen Geisteslebens. Aber wenn man so spricht, wie ich gestern gesprochen habe, unbefangen die Tatsachen charakterisierend, so sollte man nicht heraushören, dass nicht vieles noch drinnenliegt in diesem deutschen Geistesleben, was trotz der zukünftigen Zigeunerhaftigkeit herauskommen muss, was beachtet werden muss, was beachtet sein will. Denn woran sind im Grunde genommen die Deutschen zugrunde gegangen? Man muss sich auch diese Frage unbefangen einmal beantworten. Die Deutschen sind daran zugrunde gegangen, dass sie es auch mitmachen wollten mit dem Materialismus, und weil sie kein Talent haben zum Materialismus. Die anderen haben gute Talente für den Materialismus. Die Deutschen haben überhaupt jene Eigentümlichkeit, die einmal Herman Grimm ausgezeichnet charakterisiert hat, indem er sagte: Die Deutschen weichen in der Regel dann zurück, wenn es ihnen heilsam wäre, kühn vorzuschreiten, und sie stürmen furchtbar stark vor, wenn es ihnen heilsam wäre, sich zurückzuhalten. – Es ist das ein sehr gutes Wort für eine innere Charaktereigenschaft gerade des deutschen Volkes. Denn die Deutschen haben Stoßkraft durch die Jahrhunderte gehabt, aber nicht die Fähigkeit, die Stoßkraft durchzuhalten. Goethe konnte das Urphänomen hinstellen, aber es nicht bis zu den Anfängen der Geisteswissenschaft bringen. Er konnte eine Geistigkeit entwickeln, wie zum Beispiel in seinem «Faust» oder in seinem «Wilhelm Meister», welche die Welt hätte revolutionieren können, wenn die rechten Wege gefunden worden wären. Dagegen brachte es die äußere Persönlichkeit dieses genialen Menschen nur so weit, dass er in Weimar Fett ansetzte und ein Doppelkinn hatte, ein dicker Geheimrat wurde, der ungemein fleißig war auch als Minister, aber der doch genötigt war, fünfe grad sein zu lassen, wie man sagt, gerade im politischen Leben.
Das sollte in der Welt eingesehen werden, dass solche Erscheinungen wie Goethe und Humboldt überall die Ansätze darstellen, und dass die Welt wahrhaftig zu ihrem Schaden, nicht zu ihrem Nutzen, unberücksichtigt lassen könnte dasjenige, was innerhalb der deutschen Evolution lebt, und was durchaus noch nicht ausgebaut ist, was herauskommen muss. Denn die Deutschen haben schließlich auch nicht die Anlage, welche die anderen so großartig haben, je weiter wir nach Westen gehen: überall bis zu den letzten Abstraktionen aufzusteigen. Man nennt nur dasjenige, was die Deutschen in ihrem Geistesleben haben, «Abstraktionen», weil man es nicht erleben kann; und weil man das Leben selbst auspresst, so glaubt man, die anderen haben es auch nicht drinnen. Aber die Deutschen haben nicht die Gabe, bis zu den äußersten Abstraktionen vorzudringen. Das zeigte sich insbesondere in ihrem Staatsleben, in diesem unglückseligsten aller Staatsleben. Hätten die Deutschen von jeher das große Talent für den Monarchismus gehabt, das sich die Franzosen bis zum heutigen Tage so glänzend bewahrt haben, so würden sie dem «Wilhelminismus» niemals verfallen sein. Sie hätten nicht diese sonderbare, karikaturhafte Gestalt eines Monarchen dastehen zu lassen oder hinzustellen brauchen.
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