Rudolf Steiner zu der Kraft neuer Gedanken

 

Aus Nr. 185a der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 151 (Hervorhebungen IH):

… Deshalb hat diese Bourgeoisie dem aufstrebenden Proletariat ein böses Erbe hinterlassen, und dieses aufstrebende Proletariat wird dieses böse Erbe zunächst übernehmen. Und wenn es nicht begreifen kann, dass es vor allen Dingen nicht darauf ankommt, mit den alten Gedanken Neues machen zu wollen, sondern dass es darauf ankommt, sich zu neuen Gedanken zu wenden, so wird aus allen Einrichtungen nichts herauskommen können, oder besser gesagt: Es wird erst dann aus Einrichtungen etwas werden, wenn diese Einrichtungen aus wirklichen neuen Gedanken, aus dem Impulse, aus der Kraft neuer Gedanken kommen. 

Hier muss das Verständnis einsetzen von mancherlei, das wir angefangen haben zu betrachten, dessen Betrachtung für die Gegenwart, für ein Wirklichkeitsverständnis der Gegenwart außerordentlich wichtig und bedeutsam ist. Ich habe Ihnen davon gesprochen, wie das aufstrebende Proletariat in seinen Gedanken, in seinen Empfindungen erfüllt ist von dem Impulse der Lehren des Karl Marx, und ich habe Ihnen einige Gesichtspunkte aus dieser Lehre des Karl Marx angegeben. Diese Gesichtspunkte, die Millionen und Abermillionen von Menschen heute beherrschen, können Ihnen schon verraten, dass dieser ganze Marxismus eben das Erbe der bürgerlichen Weltanschauung des letzten Jahrhunderts ist. Denn ich habe Ihnen ja, ich möchte sagen, die Strömungen aufgezeigt, aus denen gerade Karl Marx sein Geisteswasser getrunken hat. Ich habe Ihnen gesagt: Aus dreierlei fließt zusammen dasjenige, was proletarische marxistische Lehre der Gegenwart ist, aus dem dialektischen Denken, das Karl Marx aus der Schule der Hegelianer hatte, aus dem sozialistischen Impetus namentlich von Saint-Simon und Louis Blanc, also der Franzosen, und aus dem Utilitarismus der Engländer. Diese drei Strömungen waren es, aus denen Karl Marx das zusammensetzte, was er so wirkungsvoll dem Proletariat beibrachte. 

Nun, diese drei Dinge können wir jetzt, nachdem wir einiges über die Gesichtspunkte des Karl Marx selbst kennengelernt haben, für sich im einzelnen betrachten. Deutscher Hegelianismus, man kann ihn von den verschiedensten Seiten her charakterisieren. Um gerade Karl Marx zu verstehen, muss man ihn etwa von der folgenden Seite charakterisieren. Hegelianismus ist die Hingabe an den Gedanken im Menschen selbst. Es ist vielleicht niemals so energisch, so kraftvoll im reinen Gedanken gearbeitet worden, wie von Hegel selbst. Hegels ganzes System, wenn ich den spießbürgerlichen Ausdruck gebrauchen darf, ist Gedankenarbeit, vom Anfang bis zum Ende lauter wirkliche Gedanken. Daraus erklärt sich auch die Schwerverständlichkeit von Hegel, denn da die meisten Menschen in ihrem Leben überhaupt niemals einen einzigen reinen Gedanken haben, so ist natürlich ein Denker, dessen ganzes System aus lauter reinen Gedanken besteht, selbstverständlich schwer, schwer, sehr schwer verständlich. Aber auch Hegel zu verstehen, dazu gehört nichts als die Überwindung der Bequemlichkeit des Denkens. Fleiß gehört dazu, Fleiß. Wo Fleiß vorhanden ist, da kommt dann die Befolgung des Satzes: Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht. Hegel ist daher ein energischer Denker, ein Denker, der in der Lage ist, seine Denkkraft so in der Hand zu haben, dass er wirklich in den einzelnen Erscheinungen des Lebens den Gedanken findet. 

Aber dies hat eine gewisse Schattenseite, die ich Sie bitte, wohl zu beachten. Man muss höchste Anstrengungen machen, aber die genügen; Fleiß genügt. Man muss höchste Anstrengungen machen, wenn man sich wirklich hineinarbeiten will in so etwas wie das Hegelsche System. 

Anstrengungen muss man machen. Dann aber, wenn man diese Anstrengungen gemacht hat, wenn man nun wirklich das Hegelsche System vom Anfange bis zum Ende durchgearbeitet hat — die meisten Philosophieprofessoren machen sehr bald Halt, weil sie glauben, sie haben schon im Prinzip den Hegel verstanden; daher konnte Hartmann, Eduard von Hartmann, in den neunziger Jahren die voll gerechtfertigte Behauptung aufstellen, dass unter allen Universitätsprofessoren der Welt überhaupt nur zwei hegelisch gebildete Leute seien, unter allen Philosophieprofessoren; seit jener Zeit ist von den zweien einer gestorben und keiner hinzugekommen – nun, wenn man Hegel auf diese Weise sich angeeignet hat, ihn gewissermaßen in seinem System durchgeackert und es sich angeeignet hat, wenn man so ein Normalmensch ist – ich will nicht sagen Spießer, aber wenn man so ein Normalmensch ist -, nicht wahr, dann möchte man doch von solch einem anstrengenden Studium etwas haben, man möchte etwas in der Hand halten. Das aber ist gerade in dem gewöhnlichen normalen Menschensinn gar nicht einmal der Fall. Man hat eigentlich in dem Sinne, wie die Menschen wollen, nichts von Hegel, jedenfalls nichts, was man in ein Heft schreiben und getrost nach Hause tragen kann, auch nicht etwas, was man sich in ein kleines Kompendium zusammenfassen und als Auszug hübsch als Lebensweisheit nach Hause tragen kann. Das alles hat man von Hegel nicht. Von Hegel hat man nur das, dass man sein Denken angestrengt hat und dass, wenn man sich überwunden hat, Hegel durchzuackern, man dann denken kann. Man kann mit dem Denken aber weiter nichts machen als: Man kann denken. Man kann denken, aber man steht mit dem Denken außerhalb des ganzen Lebens. Man kann eben nur denken. Man kann gut denken, aber man steht mit diesem Denken, das im reinenBegriffsorganismus verläuft, also dialektisch ist, außerhalb des Lebens. 

Das war es ungefähr, was Marx von Hegel lernen konnte: Denken konnte er lernen, sich wirklich im Gedanken virtuos bewegen, das konnte er lernen. Aber er suchte etwas anderes. Er suchte nach einer Lebensauffassung für das Proletariat, für die weitaus größte Anzahl der besitzlosen neueren Menschheit. An der – wenn ich mich so ausdrücken darf — Richtigkeit des Hegelschen Denkens konnte er nicht zweifeln, aber anfangen konnte er in bezug auf seine Aufgabe mit diesem bloßen Hegelschen Denken eben nichts. Das gab, wenn ich so sagen darf, seinem Karma den entsprechenden Schwung, das führte ihn über das bloße Hegeltum, in dem sich sein Denken geschärft hatte, eben zu den französischen Utopisten, zu Saint-Simon, Louis Blanc. Wenn sich Marx fragte: Wie muss man die soziale Ordnung gestalten? -, dann gab ihm das Hegeltum keine Antwort, denn Hegel selbst hat, ich möchte sagen, nur das jedem Menschen bieten können: tief, durchdringend rein zu denken. Aber wenn man Hegel gefragt hat in späteren Jahren, welches die beste soziale Ordnung ist, da hatte er eigentlich seine Jugendanschauungen vergessen gehabt. Es ist außerordentlich interessant. Eine der signifikantesten Jugendanschauungen Hegels mit Bezug auf die soziale Ordnung ist die, dass der Staat alles wirklich Menschliche vernichtet; daher muss er aufhören. Das ist ein Hegelscher Jugendsatz: Der Staat muss aufhören. Da rumorte noch dieses großartige Denken in Hegel, als er diesen Satz hinschrieb. Als er es ausgebildet hatte bis zum reinen Gedanken, mit dem eben nur das anzufangen war, dass man denken konnte, da hatte er in bezug auf die beste soziale Ordnung allerdings nur diejenige Antwort, die man ihm heute sehr zum Vorwurf machen kann, wenn man eben alles einseitig beurteilen will, da hatte er nur die Antwort aus seinem scharfsinnigen Denken heraus: Die beste soziale Einrichtung ist der preußische Staat, und der Mittelpunkt der Welt, alles Vollkommenen, ist Berlin. Berlin ist der Mittelpunkt der Welt, und die Universität von Berlin ist wiederum der Mittelpunkt Berlins. So dass wir hier sind – so sagte er in einer Antrittsrede – im Mittelpunkte des Mittelpunktes. – Wer keinen Sinn hat für Größe, welche oftmals eben auch grotesk, gerade deshalb, weil sie groß ist, irren kann, der wird natürlich alle jene Einwände, die ja billig sind, gegen einen solchen Satz ins Feld führen. Dass hinter all diesen Dingen vom Wirklichkeitsstandpunkt aus unendlich Bedeutungsvolles steckt, das könnte aber Geisteswissenschaft Sie ahnen lassen. Denn aus einer bloßen Albernheit sagte natürlich Hegel solche Dinge nicht. Und das Urteil über das Große, Einzige, das niemals sonst in der Menschheit da war: das Sich-Bewegen im reinen Gedanken, das niemals sonst in der Welt da war als bei Hegel, das wird nicht beeinträchtigt dadurch, dass dann unter gewissen Voraussetzungen von Hegel selbst eine solche Folgerung gezogen ward. Aber begreiflich wird es scheinen, dass Karl Marx nicht viel für die besten sozialen Interessen aus Hegel holen konnte. So brachte ihn eben zunächst sein Karma den französischen Utopisten nahe. …

 

 

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