Kleidsam – Das Lieblingsessen – Geschwisterliebe 

 

von Stella Hagel  

 

Kleidsam 

Die Kindergärtnerin trägt einen ergrauten, schön geformten Kurzhaarschnitt. Dazu hat sie noch ein wunderschönes blaues Kleid an. Den Kindern gefällt es, und sie bewundern ihre Kindergärtnerin sehr. „Weißt Du, wie Du heute aussiehst?“, meint ein kleiner Kerl hingerissen. „Du siehst heute aus wie eine Blaubeere mit Schimmel drauf!“ 

 

Das Lieblingsessen 

Nach der Eurythmie im Kindergarten will ich die Heimreise antreten. Ich habe schon den Mantel an und will gerade zur Tür hinaus, da kommen die Kinder aus ihrem Gruppenraum, um in den Garten zu gehen. Als sie mich sehen, stürzen sie auf mich zu und hängen sich an mich dran. Das lieben sie, aber sie hätten mich einmal dabei fast erwürgt. Denn ich saß gerade in der Hocke, kippte bei ihrem Ansturm um, und die Kinder zogen an dem Schal, welchen ich bereits um den Hals gebunden hatte, um noch näher an mich heran zu kommen. „Wo gehst Du jetzt hin?“, fragt Sophie. „Jetzt fahre ich nach Hause,“ sage ich. „Und was machst Du, wenn Du zu Hause bist?“ „Da werde ich ein Mittagessen kochen.“ „Ach,“ Sophies Augen glänzen sehnsüchtig, „was kochst Du Dir denn? Mach Dir doch Fischstäbchen.“ Und dann sehr drängend: „Erzählst Du uns das nächste Mal, was Du Dir gekocht hast?“ Und sie lässt mich erst gehen, als ich ihr dies verspreche. 

  

Geschwisterliebe 

Wir haben in einer Kindergruppe vierjährige, rotlockige Zwillingsmädchen. Eineiig und für mich nicht auseinanderzuhalten. Bei der ersten Eurythmie, die sie im Kindergarten machen, kleben sie besonders innig und ineinander verschlungen zusammen. Ich bin mit den Kindern Hand in Hand in den Eurythmieraum gezogen, und nun stehen wir alle im Kreis und fangen an, unsere kleine Geschichte zu eurythmisieren. Das ineinanderverschlungene Pärchen hat sich aus unserem Kreis gelöst und bewegt sich nach eigenem Rhythmus in dessen Mitte. Die Erzieherin schaut mich fragend an. Ich gebe ihr zu verstehen, dass wir trotzdem mit der Eurythmie weiter machen. Wir machen im Kreise Eurythmie, und die Zwillinge tanzen in dessen Mitte ein liebevolles Tänzchen. Nach kurzem bemerke ich aber, wie es im Innern unseres Kreises nicht mehr so innig und liebevoll zugeht. Dort wird es ungemütlich. Es rangelt, zieht und zerrt. Einer von den beiden wird es zu eng und sie versucht vergeblich, sich aus der Umklammerung zu befreien. Ich bin mir schon nicht mehr so sicher, ob wir wirklich problemlos weiter Eurythmie machen können. Inzwischen schauen sie sich böse und feindselig in die Augen. Nun merken es auch die Kinder. Sie werden unruhig, und ich natürlich auch. Und jetzt droht es in unserer Mitte statt eines liebevollen Tänzchens einen erbitterten Ringkampf mit Schlägerei zu geben. Die Erzieherin und ich bringen die beiden voreinander in Sicherheit. Es gibt ein mörderisches Geschrei und Gestrampel, denn nun sind wir Großen die Bösen. Sie werfen uns bitterböse Blicke zu und sind sofort wieder ein Herz und eine Seele und ganz und gar gegen uns. 

  

Prioritäten 

Unsere rotlockigen Zwillingsmädchen machen nicht so gerne Eurythmie, statt dessen manch eigenwilligen Schabernack. Sogar den Eurythmiekittel bekomme ich zuweilen mitten in der Eurythmiestunde trotzig vor die Füße geworfen. Als ich aber einen sechsjährigen Buben vor die Wahl stellen muss, entweder sehr schön mit uns zusammen Eurythmie zu machen oder in der selben Zeit eine Hausarbeit zu verrichten, flüstert mir einer beiden ins Ohr: „Also, Frau Hagel, da würde ich ja viel lieber Eurythmie machen als Hausarbeit .“ „Ja,“, flüstere ich heimlich zurück, „ich mache auch viel lieber Eurythmie als Hausarbeit.“ Und dann machen wir vor lauter Erleichterung, keine Hausarbeit verrichten zu müssen, ganz besonders schön Eurythmie.  

 

Provokation 

Lorenzo, fünf Jahre, ist ein dunkeläugiger, eigenwilliger kleiner Kerl. Zwei Jahre rangele ich schon mit ihm um die Eurythmie, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. In der letzten Zeit wird es sogar etwas schwieriger statt besser. Von der Erzieherin erfahre ich, dass es am schlimmsten wird, wenn man ihn nicht in Ruhe lässt. Also lasse ich ihn in Ruhe. 

Eines Tages steht Lorenzo mir gegenüber im Kreis beim Eurythmiemachen. Er streckt mir ein winziges Stück seiner Zunge heraus. Ich ignoriere es und lasse ihn in Ruhe. Er aber streckt nun ein größeres Stück von seiner Zunge raus. Ich fühle mich ungemütlich, reagiere aber nicht darauf. Dann aber streckt er mir richtig doll die Zunge raus. Mir wird siedendheiß. Das kann ich mir doch nicht einfach gefallen lassen? Inzwischen streckt er seine Zunge so weit heraus, wie es überhaupt nur geht, immer wieder und wieder. Zwischendrin schaut er mich herausfordernd an. Nein, denke ich, so geht das nicht und überlege mir eine Blitzüberrumpelungsaktion, um keinen Kampf zu provozieren. Blitzartig flitze ich plötzlich durch den Kreis, greife den kleinen Schlingel bei den Schultern und bewege mich, noch bevor er Zeit hat zu reagieren, genauso schnell mit ihm zurück an meinen Platz. Dort stelle ich ihn vor mich hin und erteile den Befehl: „So, und jetzt schön Eurythmie machen, bitte schön!“ Mehr war nicht nötig. Die Aktion hat Lorenzo überrascht und wohl auch überzeugt, denn sein letztes Kindergartenjahr hat er immer anstandslos und schön Eurythmie gemacht.