Ikarus 

 

von Stella Hagel

 

Im großen Garten gibt es ein kreisrundes Mäuerchen, etwa 80 bis 100 cm hoch. Es sieht aus wie ein alter Brunnen, ist aber mit Erde gefüllt. Eine ziemlich breites Holzbrett ist wie eine Rampe oder Rutsche daran gelehnt. Kieran, drei Jahre alt, schiebt schwer schnaufend sein Dreirad das Brett hoch, setzt sich geschickt oben darauf und saust die Rampe herunter. Wir schauen unbemerkt vom Fenster aus zu. Er tut es begeistert immer wieder, und wir sind beeindruckt. Später gehe ich hinaus, um Kräuter zu holen. Kieran möchte mir sein neues Kunststück vorführen. Wieder schiebt er mühselig sein Dreirad nach oben, schaut mich aus strahlenden Augen an, wie er schon auf dem Dreirad sitzt. „Now look!“ ruft er stolz. Mit Schrecken sehe ich, was geschehen wird, denn er schaut weiterhin mich strahlend und siegesgewiss an. „Kieran schau nach vorne!“ rufe ich schnell, aber schon ist es geschehen. Er fährt los und stürzt mitsamt seinem Dreirad in die Tiefe. Gott sei Dank ist nichts Schlimmes geschehen, doch heult er natürlich laut. 

Der Unfall ist typisch für Kieran. Er scheut keine Mühen, seine Begeisterung ist groß. Alles strebt nach oben, und dann kommen die Abstürze und die Wundbehandlungen. Selbst als er schon 16 Jahre alt ist, kann solches noch geschehen. Da arbeitet Kieran an einem kleinen Umbau seiner Schule mit, um Geld zu verdienen. Er gibt sein Bestes und vielleicht noch ein bisschen mehr. Am Ende stürzt er in den Müllcontainer und bricht sich den Arm. Auf dem Weg ins Krankenhaus, den wir zu Fuß gehen, redet er viel. Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Kieran geht neben mir und doch wieder nicht. Mir ist, als unterhalte ich mich mit seinen Schuhen und er selbst schwebt über mir. Erst nachdem er verarztet ist, und wir auf dem Heimweg sind, habe ich das Gefühl, ihn wieder ganz neben mir, unten auf dem Boden zu haben.