von Stella Hagel
Ich werde auf den Boden geholt
Hand in Hand ziehe ich mit den Kindern in den Eurythmiesaal. Wir fahren in einem großen Schiff, umkreist von Möwen, die, wenn das Schiff angekommen ist (da stehen wir dann im Kreis) sich auf Busch und Baum niederlassen und sachte ihre Flügel an die Seite legen. Ohne ein solches Bild patschen Arme und Hände der Kinder oft extra laut an den Körper herab. Gerade sage ich: „Die Möwe legt ihre Flügel leis’ und sacht an die Seite“, da bückt sich Martin, vier Jahre alt, blond mit einem zarten, pfiffigen Gesichtchen, ein kleiner Schlawiner im himmelblauen Eurythmiekittelchen, streckt das Köpfchen nach vorn, die Ärmchen nach hinten und sieht dabei auf so zauberhafte und lustige Weise wie eine richtige kleine Möwe aus, dass wir alle hell auflachen müssen. Auch die Kinder hatten diesen Zauber sofort erfasst. Natürlich steigt der Lacherfolg dem kleinen Kerl zu Kopf. Er muss immer wieder Möwe spielen und wir können mit der Eurythmie nicht weitermachen. Also muss ich ein kleines Machtwort sprechen, welches aber nichts nützt und nicht ernstgenommen wird. Da muss ich ein größeres Machtwort sprechen: „So, Martin, jetzt ist aber wirklich Schluss!“, sage ich ziemlich bestimmt. Das wirkt. Martin ist jetzt aber beleidigt, und als wir schon weiter Eurythmie machen, trottet er mit säuerlichem Gesicht an mir vorbei und murmelt mir im Vorübergehen zurechtweisend zu: „Mein Vater hat dieses Haus gebaut!“ Mir bleibt der Mund offen stehen und ich flüstere, das Lachen verbeißend der Erzieherin zu: „Da bleibt einem doch die Luft weg, was?“ Schnell und besorgt kommt da Pauline, die empfindsame, ältere Schwester von Elias zu mir gelaufen und tröstet mich: „Nein, Frau Hagel, mein Vater hat das Haus nicht gebaut, er ist nur der Architekt.“
Künstlerkinder
Valentin, sechs Jahre, und Rafael, viereinhalb Jahre, sind zwei sehr unterschiedliche Brüder einer Musikerfamilie. An einem Morgen, gebe ich den Kindern Blumen- und Baumnamen. An so etwas haben sie Freude. Valentin sitzt erwartungsvoll da, ganz hell und leicht: „Du bist eine Birke“, sage ich, und er strahlt einverstanden. Rafael neigt sein großes Köpfchen zur Seite und schaut mich elegisch und ebenfalls erwartungsvoll von unten her an. „Ja, und Du bist wohl eine Trauerweide?“, frage ich ihn. Rafael lächelt leise und geschmeichelt und fühlt sich verstanden.
Eines Tages ist Valentin rot angezogen. Rote Hose, roter Pulli. Rafael hat das Gleiche in dunkelblau an. Valentin trägt auf dem Kopf einen roten Schleier und eine rote Krone darüber, Rafael das Gleiche in dunkelblau. Erwartungsvoll sitzen sie wieder in der Runde der Kinder, als ich zur Eurythmie komme und jedes Kind begrüße. „Wird sie erraten, was wir heute sind?“ steht in ihren Augen geschrieben. Ich rate falsch. „Seid Ihr zwei Könige?“ „Nein!!“ „Ich bin der Tag“, erklärt Valentin mit strahlender Stimme. Umflort schaut Rafael mich an, wieder hat er sein Köpfchen zur Seite geneigt und mit etwas schleppendem Stimmchen erklärt er: „Und ich bin die Nacht.“