Ich lerne etwas über das Glück 

 

von Stella Hagel

 

Mit Kieran und Ossian gehe ich spazieren. Wir wandern zu den Resten einer alten Burg hier in der Gegend. Dort angelangt ist vor einem Cafe ein Softeisautomat. Sofort wollen beide Buben ein Eis. Da ich die Kinder selten sehe, bin ich froh, ihnen eine Freude machen zu können, und kaufe jedem ein Eis. Schnell haben sie das aufgeschleckt und bitten um noch eines. Nun will ich nicht aus erzieherischen oder gesundheitlichen Gründen die Stimmung und den schönen gemeinsamen Nachmittag trüben und erlaube ein zweites Eis in der Hoffnung, die Kinder glücklich zu machen. Schnell haben sie aber auch das zweite Eis aufgegessen, und Kieran begehrt sofort und immer noch ziemlich unbefriedigt das dritte. Da erkenne ich, dass ich die Kinder auch mit einem dritten Eis nicht glücklich machen kann. So beiße ich in den sauren Apfel, sage strikt „Nein“ und bedaure, dies aus gesundheitlichen Gründen nicht schon nach dem ersten Eis gesagt zu haben. Die Erkenntnis, dass man Kinder nicht glücklich machen kann, wenn man ihnen alles gewährt, lohnt sich auf jeden Fall und wird noch dadurch unterstrichen, dass Kieran auf dem Heimweg gesteht, wie sehr kalt doch sein Bauch nun von innen sei, und wie es doch besser gewesen wäre, er hätte gar kein Eis gegessen. 

Kierans Unwohlsein verstärkt sich, es rumpelt bedrohlich in seinem Bauch, und plötzlich merkt er mit Entsetzen, dass er dringend ein großes Geschäft machen muss. Sein Entsetzen rührt daher, dass er, noch nicht ganz sechsjährig, schon ein bisschen aus dem Kinderhimmel gefallen ist und sich sehr ob nackter Tatsachen geniert. Völlige Ratlosigkeit droht uns alle drei zu erfassen, da eine Toilette noch weit und Kieran sich auf keinen Fall etwas anderes vorstellen kann. Mit Engelszungen rede ich auf ihn ein und kann ihn überzeugen, dass kein Mensch, auch nicht sein kleiner Bruder, ihn hinter dem ganz dicken Baum sehen kann, und dass wir das Riesenproblem mit dem Abputzen ebenfalls lösen können. Ich würde für ihn große Blätter suchen, die ich ihm mit geschlossenen Augen hinter den Baum reiche, wenn er fertig ist. Genau so haben wir es gemacht, und während ich die größten Blätter, die zu finden sind, sammle, bemerke ich, wie der kleine Ossian, fürsorglich und sehr bemüht, ebenfalls sehr emsig sammelt. Wie ich Kieran meine Blätter bringen will, reicht der Kleine mir fein säuberlich und liebevoll aufeinandergelegt einen kleinen Stapel winzigster gezackter Blättchen und bittet mich, sie seinem Bruder zum Abputzen zu geben. 

Kieran ist von seinem Walderlebnis mächtig ergriffen, musste er doch über seine Natur hinauswachsen. Voller Ehrfurcht vor seiner Tat muss er zwei Tagen später auf dem gleichen Spaziergang den Ort seiner Selbstüberwindung unbedingt noch einmal sehen und stapft suchend um den großen Baum herum. Ossian, der ihm suchen helfen möchte, wird scharf zurückgepfiffen. Das ginge ihn garnichts an. Hinter dem Baum aber, oh Wunder, ist nichts mehr zu finden.