von Ingo Hagel
Für Lammert gilt: Das Volk stört!
Lammerts Aussagen belegen vor allem eines: dass es nämlich die Bundestagsabgeordneten in »einer reifen parlamentarischen Kultur« einen feuchten Kehricht interessiert, wie der Souverän über fundamentale politische Entscheidungen denkt und wie er sie ausgeformt sehen möchte.
In der Tat gibt Bundespräsident Lammert zu, dass die diversen Projekte der Regierung, also Rettungsschirme, Stabilisierung des Euro, Bewältigung der Flüchtlingsinvasion, Ukraine-Konflikt und das Verhältnis zu Russland beim Volk deutlich weniger gut ankommen als in der parlamentarischen Vertretung dieses Volkes, dem Deutschen Bundestag. Nur drückte Lammert das anders aus, indem er ausführte, diese Projekte hätten innerhalb dieses Bundestages
erstaunlich breite parlamentarische Mehrheiten, die jeweils deutlich ausgeprägt größer sind als die Mehrheiten in der Bevölkerung für die jeweilige Politik.
Lammert bildet sich einen Stiefel auf dieses wachsende Auseinanderklaffen zwischen Volkswille und Regierung ein, denn er glaubt, das könne man
als ein Zeichen einer reifen parlamentarischen Kultur kommentieren.
Was nicht anders zu verstehen ist, als dass eine sogenannte „reife parlamentarische Kultur“ ein unreifes und dummes Volk zu regieren hat.
Diese Eingebildetheit könnte fast schon wieder witzig sein, würde nicht so viel Elend, Not und Leiden der Menschen wenigstens in Deutschland und Europa davon abhängen.
Sie ist jedoch nichts anderes als eine weitere Facette der Unfähigkeit und der Dekadenz der führenden Klasse, die die Probleme der Zeit nicht nur nicht erkennen, sondern sie auch nicht bewältigen kann. Dazu fehlen dieser Klasse schlichtweg die Fähigkeiten (siehe dazu nicht nur die grundsätzlichen Rubriken hier und hier, sondern vielleicht auch die Grundsatzartikel hier und hier und hier).
Aber es ist schon so, wie Rudolf Steiner bereits damals sagte:
Herrschen muss heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren. Das ist es, worauf es ankommt. Und damit ist auch gegeben, dass in einem gesunden Sinne heute die Demokratie notwendig ist. ….. Demokratie muss kommen, aber wir müssen einen solchen sozialen Organismus haben, der Demokratie gründlich möglich macht.
Die Zeit ist längst soweit gediehen, dass innerhalb des Rechtslebens (Politik) die Menschen ihre Belange selbst bestimmen können. In diesem Sinne wird das Volk durchaus herrschen dürfen, während eine Regierung nur reagieren darf, was so zu verstehen ist, dass sie ein reiner Verwaltungsapparat ist. Sie setzt um, was das Volk bestimmt:
Deshalb werden sich die Menschen schon dazu bequemen müssen, einzusehen, was übrigens die vernünftigen Sozialisten immer schon gesagt haben, dass es in der Zukunft sachliche Verwaltungen und keine Scheinverwaltungen durch Wahlen und dergleichen geben muss.
Damit aber diese Demokratie „in einem gesunden Sinne“ möglich ist,
nach links und nach rechts …. die rein sachlichen Interessen abgesondert werden, dann bleibt in der Mitte der Boden der Demokratie übrig (das heißt das Rechtsleben, die Politik; Anmerkung IH), auf dem nichts anderes in Betracht kommt als das, was jeder reife, ausgewachsene Mensch von jedem ausgewachsenen, reifen Menschen als gleichem zu fordern hat, und von wo dann das Recht in das Geistesleben und Wirtschaftsleben hineinstrahlt. Gerade weil heute der Ruf nach Demokratie so berechtigt ist, müssen wir erkennen, wie die Demokratie durchgeführt werden kann.
Demokratie kann nämlich „in einem gesunden Sinne“ nicht durchgeführt werden, wenn man glaubt, das Volk sollte nun über Alles und Jedes bestimmen dürfen. Das ist mit Demokratie (innerhalb des Rechtslebens, der Politik, also des Bereiches des gesellschaftlichen Lebens, der die Verhältnisse von Mensch zu Mensch regelt) nicht gemeint. – Oder ich sage es noch anders:
Selbstverständlich darf „das Volk“ beziehungsweise jeder Mensch Alles und Jedes bestimmen dürfen.
Aber nicht vom Boden des alten zentralistischen Einheitsstaates aus, der in sich das Rechtsleben (Politik), Wirtschaftsleben und das Geistesleben (Ausbildung Schulwesen, Forschung, Universitäten und so weiter) umklammert hält.
Dazu müssen eben nach links und nach rechts „die rein sachlichen Interessen“, das heißt die Bereiche des Wirtschaftslebens und des freien Geisteslebens aus dem Bereich der Politik herausgegliedert werden, was Rudolf Steiner als Soziale Dreigliederung bezeichnete (mehr dazu zum Beispiel hier und hier und hier auf Umkreis-Online). Diese bilden zum Beispiel ihr eigenes Wirtschaftsparlament. Jeder Mensch ist prinzipiell Angehöriger dieser drei Bereiche: des Rechtslebens (Politik), des Wirtschaftslebens und des Geisteslebens. Ist er also zum Beispiel Teilnehmer des Wirtschaftslebens, dann wird es nicht die Regierung sondern dieses Wirtschaftsparlament beziehungsweise die einzelne Firma sein, das beziehungsweise die darüber zu bestimmen hat, mit wem es Handel treibt – und mit wem vielleicht lieber nicht.
Und die Organisation für das freie Geistesleben würde etwas viel Freieres als ein Parlament sein, wie Rudolf Steiner einmal bemerkte. Denn über die Wahrheit, über Ideen und den Geist kann man nicht parlamentarisch und mehrheitlich – wie im Rechtsleben und im Wirtschaftsleben – abstimmen.
Rudolf Steiner: Es ist so einfach zu verstehen, warum dieser dreigliedrige soziale Organismus notwendig ist, dass man sich eigentlich immer wundern muss, dass die Leute so viel dagegen haben.
Aber statt man zu einem Verständnis der Sozialen Dreigliederung kommt, schlittert die Welt täglich von einer Katastrophe in die nächste.
Ein Beispiel von heute, dem 30. Mai 2016:
Ursache des seit Monaten andauernden Preistiefs sind große Milchmengen auf den Märkten.
Schreibt der Spiegel. Dass diese katastrophalen Wirtschaftssanktionen gegen Russland es sind, die schuld an dieser Misere sind, verschweigt der Spiegel lieber. Und wer zahlt es? Natürlich die deutschen Steuerzahler, das heißt die Angehörigen des Rechtslebens! Was für eine verkehrte Welt! Und mal wieder ein Beispiel für die Katastrophen, die entstehen, wenn Wirtschaftsleben und Rechtsleben (Politik) nicht getrennt werden. Wären Wirtschaftsleben und Politik getrennt, dann könnte keine Regierung, keine Politik Wirtschaftssanktionen gegen irgendein Land verhängen. Das läge überhaupt nicht in ihrem Verfügungs- und Einflussbereich. Und die deutsche Wirtschaft würde Handel treiben, mit wem immer sie gerne Handel treiben will.
Die andere Katastrophe ist natürlich die, dass sich die Geschädigten der deutschen Wirtschaft, die unter den Wirtschaftssanktionen gegen Russland leiden, immer wieder an die Regierung wenden mit irgendwelchen Petitionen, anstatt die längst überfällige Trennung von Politik und Wirtschaftsleben zu fordern, anstatt die Soziale Dreigliederung zu fordern.
Bundestagspräsident Lammert hat mit dem oben genannten Statement schonungslos die Haltung der dekadenten regierenden Klasse zu dem, was Wille des Volkes ist, und was Herrschaft des Volkes sein muss, dargelegt.
Und es ist nicht im geringsten abzusehen, dass sich an dieser unfähigen und dekadenten Haltung dieser regierenden Klasse irgend etwas ändern wird. Daher wies Rudolf Steiner auch darauf hin, dass es keine andere Lösung für diese soziale Frage gibt, als zu warten, bis sich dieses neue soziale Verständnis innerhalb des Proletariats – beziehungsweise der heutigen Arbeiterschaft- und Angestelltenschaft – an die Oberfläche gearbeitet hat:
Rudolf Steiner: …. ich habe den festen Glauben, den ich mir durch ein langes Leben unter dem Proletariat erworben habe, dass dasjenige, was ich (zur Sozialen Dreigliederung; Anmerkung IH) gesagt habe, zunächst nicht von den anderen Klassen, sondern gerade vom Proletariat verstanden werden wird. Und es muss leider gewartet werden, bis es vom Proletariat verstanden werden wird. Ich glaube aber, da wird es verstanden werden können.
Anmerkung: Wobei – wie gesagt – unter „Proletariat“ das verstanden werden muss, was sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem neuen großen Teil der deutschen Bevölkerung verändert hat; siehe dazu hier und hier.
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