von Ingo Hagel
Goethe schaute also an den Dingen der Sinneswelt ein Nicht-Sinnliches, das heißt ein Über-Sinnliches, das in diesen wirkte und das Leben bewirkte. Nicht nur das, was Goethe gelang, sondern auch das, was Goethe damals nicht gelang, muss aber in der heutigen Zeit Zielsetzung einer modernen Weltanschauung sein, wenn man erfahren will, was Wirklichkeit wirklich ist. Im zweiten Teil seiner „Philosophie der Freiheit“ geht Rudolf Steiner daher noch einmal zusammenfassend und vertiefend auf die grundsätzliche und überragende Bedeutung einer Beobachtung des Denkens ein – das heißt auf den Beginn eines Anschauens der eigenen Wesenheit des Menschen:
Im Betrachten des Denkens selbst fallen in eines zusammen, was sonst immer getrennt auftreten muss: Begriff und Wahrnehmung. Wer dies nicht durchschaut, der wird in an Wahrnehmungen erarbeiteten Begriffen, nur schattenhafte Nachbildungen dieser Wahrnehmungen sehen können, und die Wahrnehmungen werden ihm die wahre Wirklichkeit vergegenwärtigen.
Damit wird also gesagt, dass jemand – wie zum Beispiel Götz Werner – die Sinnes-Anschauung immer höher als durch das Denken erarbeitete Begriffe wird schätzen müssen, solange er dieses Denken nicht in der Lage ist zu beobachten. Auf diesem naiven Stand seines Bewusstseins werden ihm nur die Dinge der Sinnes-Anschauung als real erscheinen und die Wirklichkeit verbürgen. Das Denken jedoch wird für ihn auf einer niedrigeren Stufe der Bedeutung stehen als das Anschauen, da es für ihn nur die „schattenhafte Nachbildung“ der Sinneswelt darstellt. Letztere verdeckt ihm aber in diesem gewöhnlichen Bewusstsein das, was immer im Bewusstsein des Menschen – allerdings unerkannt, weil unbeobachtet – arbeitet: das Denken.
Während beim Betrachten der Außenwelt Wahrnehmung und Begriff auseinanderfallen, fallen beim Beobachten des Denkens Wahrnehmung und Begriff zusammen. Der Mensch schaut sein Denken an, zuerst einmal seine Begriffswelt – das heißt seine eigene Tätigkeit. Dazu muss er diese Begriffswelt natürlich denken, sonst kann er sie nicht anschauen. Er muss also erst einmal durch seine eigene Denktätigkeit dem Anschauen, das heißt dem Beobachten des Denkens einen Gegenstand, ein Objekt schaffen, das er dann wiederum anschauen und beobachten kann. Der Mensch beginnt, die Tätigkeit seines eigenen Ichs anzuschauen – das heißt ein wahres Bewusstsein seines Selbst zu erhalten. In diesem Moment beginnt das Denken, das heißt die Ideenwelt der Menschen, real zu werden – und zwar realer als das Anschauen der Sinneswelt. Der Mensch wird auf diesem Wege vom Denken irgendwann nicht mehr sagen, dieses „sei ja nur gedacht“, sondern es wird ihm die Grundlage für eine echte Auffassung der Wirklichkeit liefern:
Wer aber durchschaut, was bezüglich des Denkens vorliegt, der wird erkennen, dass in der Wahrnehmung nur ein Teil der Wirklichkeit vorliegt und dass der andere zu ihr gehörige Teil, der sie erst als volle Wirklichkeit erscheinen lässt, in der denkenden Durchsetzung der Wahrnehmung erlebt wird. Er wird in demjenigen, das als Denken im Bewusstsein auftritt, nicht ein schattenhaftes Nachbild einer Wirklichkeit sehen, sondern eine auf sich ruhende geistige Wesenhaftigkeit. Und von dieser kann er sagen, dass sie ihm durch Intuition im Bewusstsein gegenwärtig wird. Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewusste Erleben eines rein geistigen Inhaltes. Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit des Denkens erfasst werden.
Hier weiterlesen:
Teil 1: Zu Götz Werners missverstandener Auffassung von Goethes Weltanschauung
Teil 2: Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun
Teil 4: Götz Werner übersieht die Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis
Teil 6: Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen
Teil 7: Zur Bedeutung einer Beobachtung des Denkens für eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Welt
Teil 8: Viele meinen, Goethes Weltanschauung sei etwas total Überflüssiges
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