Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen

 

von Ingo Hagel

 

Goethe hatte eine glückliche geistige Veranlagung. Er praktizierte als geistiger Pionier diese Beobachtung des Denkens – allerdings nicht aus einem philosophisch-erkenntnistheoretischen Impuls heraus, sondern immer an der Anschauung der Sinneswelt. Bei deren Anschauen kam es ihm aber nicht vorrangig auf ein naiv-realistisches Erfassen oder Genießen an. Sein Anschauen der Sinneswelt zielte immer auf ein Anschauen der in dieser wirkenden Gedanken und Ideen. Auf diesem Wege hatte Goethe das erfasst, was als Lebendiges in der Pflanzenwelt wirksam ist. Als solches ist es es nicht sinnlich, sondern nur übersinnlich erfahrbar, das heißt als Bild (Imagination) anschaubar. Das konnte Goethe. Er nannte dieses Lebendige, Übersinnliche, das allen Pflanzen zugrunde lag, die „Urpflanze“. Das, von dem der normale Wissenschaftler in seinem gewöhnlichen Bewusstsein nur in abstrakten Gedanken die äußerste abstrakte Hülle erfährt (Naturgesetze), sah er mit den Augen seiner Seele und seines Geistes. Als er einmal Schiller darüber berichtete, fasste dieser seine Worte völlig falsch – das heißt intellektuell – auf und sagte kopfschüttelnd (Hervorhebung IH):

«Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.» Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte. Er war sich bewusst, dass er zu seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges, das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: «Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.» Und er war ganz unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte: «Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche der letzteren, dass ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.»

Schiller konnte sich nicht vorstellen, dass Ideen – im Sinne einer Goetheschen Weltanschauung – wahrnehmbar und so real werden können wie die Dinge der Sinneswelt. Für Schiller waren Ideen nur abstrakt denkbar, nicht anschaubar. Goethe leistete daher – nicht theoretisch sondern aus eigener Anschauung heraus – einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung einer Wissenschaft, die sich nur auf das sinnlich Erfahrbare beschränken wollte. Wo wir – weit über 200 Jahre nach obigem Gespräch – hinsichtlich eines Verständnisses von Goethes Impulsen stehen, davon gibt Götz Werners Kolumne einen Eindruck.

Anmerkung: Rudolf Steiner schildert in seinem Buch „Goethes Weltanschaung“ aber auch die Schwierigkeiten, in denen sich Goethe – trotz seiner genialen Veranlagung, auch bedingt durch die Zeit – auf diesem Erkenntniswege hinsichtlich der Frage der menschlichen Freiheit befand (Hervorhebungen IH):

Und diese Idee erfasst der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, dass man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne, über das Denken (intellektualistisch und daher erst einmal unreal; Anmerkung IH) zu denken, dass man aber doch zu einer Anschauung der Gedankenwelt kommen könne.

Diese Frage der Freiheit wurde dann von Rudolf Steiner in seiner „Philosophie der Freiheit“ (GA 4) gelöst – und aus deren Geist heraus dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ihm weiter als Geisteswissenschaft (Anthroposophie) entwickelt und dargestellt. In Goethe steckten eben die Keime zu Vielem, das er selber noch gar nicht entwickeln und ausführen konnte. Rudolf Steiner:

Bedenken Sie nur, was in diesem Goethe eigentlich alles als besonders charakteristisch Eigentümliches ist. Erstens, seine gesamte Weltanschauung — die in die geistigen Höhen noch höher hinaufgeführt werden kann, noch höher als sie Goethe selbst führen konnte ….

 

Hier weiterlesen: 

Teil 1: Zu Götz Werners missverstandener Auffassung von Goethes Weltanschauung

Teil 2: Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun

Teil 3: Die Anschauungsart Goethes und der Anthroposophie bejaht im vollen Sinne den Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung

Teil 4: Götz Werner übersieht die Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis

Teil 5: Ohne den Willen zum Denken ist aus dieser Sackgasse der anschauenden Sinneswahrnehmung nicht herauszukommen

Teil 6: Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen

Teil 7: Zur Bedeutung einer Beobachtung des Denkens für eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Welt

Teil 8: Viele meinen, Goethes Weltanschauung sei etwas total Überflüssiges 

Teil 9: Götz Werners verpasste eine große Chance, die Soziale Dreigliederung ins Bewusstsein der Menschen zu bringen

 

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