von Ingo Hagel
Gleich anschließend an Werners oben behauptete äußere Verschiedenheit der dm-Märkte – die wir allerdings kaum erleben können sondern Götz Werner „glauben“ sollen – stellt er das Anschauen dem Denken und Wissen gegenüber und meinte dazu:
Anschauen ist immer wieder interessanter als Wissen und als Denken. Weshalb es ja sehr geeignet ist, dem Denken neue Impulse zu geben und das Wissen um neue Erkenntnisse zu bereichern.
Werner hält – wie so viele Menschen – das Anschauen mit den Sinnen für interessanter als das Wissen und Denken. Er übersieht dabei – gerade als Anthroposoph – jedoch die elementarsten Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis, wie sie Rudolf Steiner bereits in seinen „Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften“ (Nr. 1 der Gesamtausgabe) dargestellt hat:
Wir haben von der völlig bestimmungslosen, unmittelbaren Form der Wirklichkeit auszugehen, von dem, was den Sinnen (das heißt für die Wernersche „Anschauung“; Anmerkung IH) gegeben ist, bevor wir unser Denken in Fluss bringen, von dem nur Gesehenen, nur Gehörten usw. Es kommt darauf an, dass wir uns bewusst sind, was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die Sinne sagen uns nicht, dass die Dinge in irgendeinem Verhältnisse zueinander stehen, wie etwa, dass dieses Ursache, jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge gleich wesentlich für den Weltenbau. Das gedankenlose Betrachten weiß nicht, dass das Samenkorn auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der Straße.
Auch in seiner „Philosophie der Freiheit“ (Nr. 4 der Gesamtausgabe) stellt Rudolf Steiner dar, dass es nicht das Anschauen (Sinneswahrnehmung) ist, das dem Denken neue Impulse liefert, sondern umgekehrt das Denken die völlig unterschiedslosen und qualitativ gleichwertigen Elemente der Sinnesbeobachtung (des Anschauens) gewichtet, wertet und diesen damit ihren Platz und ihre Bedeutung in der Welt zuweist. Rudolf Steiner (Hervorhebungen Ingo Hagel):
Am tiefsten eingewurzelt in das naive Menschheitsbewusstsein ist die Meinung: das Denken sei abstrakt, ohne allen konkreten Inhalt. Es könne höchstens ein «ideelles» Gegenbild der Welteinheit liefern, nicht etwa diese selbst. Wer so urteilt, hat sich niemals klar gemacht, was die Wahrnehmung ohne den Begriff ist. Sehen wir uns nur diese Welt der Wahrnehmung an: als ein bloßes Nebeneinander im Raum und Nacheinander in der Zeit, ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten erscheint sie. Keines der Dinge, die da auftreten und abgehen auf der Wahrnehmungsbühne, hat mit dem andern unmittelbar etwas zu tun, was sich wahrnehmen lässt. Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von gleichwertigen Gegenständen. Keiner spielt eine größere Rolle als der andere im Getriebe der Welt. Soll uns klar werden, dass diese oder jene Tatsache größere Bedeutung hat als die andere, so müssen wir unser Denken befragen. Ohne das funktionierende Denken erscheint uns das rudimentäre Organ des Tieres, das ohne Bedeutung für dessen Leben ist, gleichwertig mit dem wichtigsten Körpergliede. Die einzelnen Tatsachen treten in ihrer Bedeutung in sich und für die übrigen Teile der Welt erst hervor, wenn das Denken seine Fäden zieht von Wesen zu Wesen. Diese Tätigkeit des Denkens ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick, die Wahrnehmung (Anschauung der Sinne; Anmerkung IH) gibt mir keinen Inhalt, der mich über die Vollkommenheit der Organisation belehren könnte. Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern.
Natürlich hat es der heutige Mensch, ausgesprochen schwer, dem Denken diese überragende Bedeutung vor dem Anschauen zu geben. Denken ist ungeheuer anstrengend. Man kann das Gefühl haben, daran zu erfrieren. Und so bleiben die meisten Menschen lieber auf dem Standpunkte eines naiven Realismus stehen, der eben die Wirklichkeit durch das Wahrnehmbare der Sinne begründet erlebt – Gedanken und Ideen erscheinen dem Menschen heute immer noch als höchst unreal, weil nur gedacht.
Anmerkung: An der Sache ist tatsächlich – tiefer betrachtet – etwas dran. Ich kann auf dieses Problem – inwiefern das Denken substanzlos ist, aber inwiefern es (nur durch das Denken) überhaupt wieder Substanz erhält – hier nicht weiter eingehen. Das Problem kann aber nur über eine Intensivierung des Denkens – und nicht durch Rückzug auf den naiven Realismus der sinnlichen Anschauung oder der gewöhnlichen Gefühle – überwunden werden.
Real und wirklich für diese naiv-realistische Weltauffassung erscheint dagegen nur die Sinneswelt, die (gewöhnliche) Anschauung. Mit deren hundertausendfachen Verbreitung in alverde-Magazinen erreicht man aber nichts weiter, als dass der heutigen Versumpfung im Denken, die letztendlich der Grund ist für die gesamten kulturellen, sozialen, wissenschaftlichen, und weltanschaulichen Missstände, in denen die heutigen sogenannten „modernen“ westlichen Gesellschaften stecken, Vorschub geleistet wird.
Hier weiterlesen:
Teil 1: Zu Götz Werners missverstandener Auffassung von Goethes Weltanschauung
Teil 2: Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun
Teil 4: Götz Werner übersieht die Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis
Teil 6: Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen
Teil 7: Zur Bedeutung einer Beobachtung des Denkens für eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Welt
Teil 8: Viele meinen, Goethes Weltanschauung sei etwas total Überflüssiges
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